Es war mitten in der Nacht, als Mathieu heftig aus dem Schlaf hochschreckte. Schwer atmend blickte er sich hektisch um, um dann keuchend seine Hände auf das Gesicht zu pressen. In der dämmrigen Dunkelheit seines Zimmers verflüchtigten sich die lebhaften Bilder vor seinem geistigen Auge zu dem, was sie gewesen waren - ein Traum.
Doch was sein Gedächtnis nur allzu bereitwillig verschwinden ließ, hielt sein Körper fest, so sehr, dass der Jugendliche zitterte und eine Gänsehaut über seinen Rücken kroch.
Er war verschwitzt, seine Wangen glühten und zu seiner eigenen Verlegenheit musste er feststellen, dass er seinen Pyjama beschmutzt hatte.
»Verdammt«, knurrte der blonde Junge und stieg aus dem Bett. Während er ohne Licht zu machen an seinen Schrank trat und nach Gefühl eine Trainingshose heraus zog, zwang er sich, sich an das zu erinnern, was er geträumt hatte, doch er konnte die Bilder nicht fassen. Einzig eine vage Erinnerung an den Duft nach Zimt ließ sein Gehirn zu und Mathieu biss sich auf die Lippen.
War er so tief gesunken, dass sein Unterbewusstsein ihn schon feuchte Träume über diesen verdammten rothaarigen Idioten haben ließ?
Der Jugendliche lächelte jedoch dann. Träume waren nicht logisch, also war es doch ganz egal, was darin geschehen war. Er zog sich um und warf die Pyjamahose in seinen Wäschekorb, bevor er sich auf die Kante des Bettes setzte. Vielleicht war die Reaktion seines Körpers gar nicht davon ausgelöst worden, dass Lucien darin aufgetaucht war. Das war bestimmt schon häufiger geschehen, immer dann, wenn Mathieu sich besonders über ihn geärgert hatte. Der Blonde träumte ständig von den merkwürdigsten Leuten.
Zerknirscht musste der Junge sich dann aber eingestehen, dass er normalerweise nicht mit feuchten Hosen aufwachte. Genaugenommen war das noch nie zuvor passiert und er kannte diese Dinge nur aus den Jugendzeitschriften, die seiner Schwester gehörten und deren Aufklärungsseiten Mathieu las. Zu seinem Vater zu gehen und ihn diese Sachen zu fragen, war undenkbar. Dieser würde ihm wahrscheinlich nur sagen, dass einem Haare auf den Händen wachsen würden oder dass es unmoralisches Verhalten begünstigte, wenn ein Junge seinen Gelüsten nachgehen und sich selbst Vergnügen bereiten würde. Dass diese Dinge wie Lust und Sex in eine Ehe gehörten und sonst nirgendwohin.
Mathieu fragte sich oft, ob sein Papa jemals jung gewesen war. Oder überhaupt wie ein normaler Mensch fühlte. Aber vermutlich war es so, wie er und Lucien im Camp festgestellt hatten - sobald man ein bestimmtes Alter erreicht und selbst Kinder hatte, hatte man alles aus der eigenen Jugend vergessen. Da setzte die verschwommene Selbstwahrnehmung ein, die die Erwachsenen sagen ließ: »Wir waren früher aber anders!«
Schnaufend ließ sich der Blonde auf den Rücken fallen. Es war mitten in der Nacht und mucksmäuschenstill in der Villa der Grantaines. Während der Jugendliche gedankenverloren an die dunkle Decke seines Zimmers blickte, bemerkte er gar nicht bewusst, dass er anfing, sich mit einem Finger seiner rechten Hand über die Brust zu streicheln. Erst ein leises Knacken irgendwo in den Wänden ließ ihn zusammenzucken. Beinahe schuldbewusst und beschämt ließ er den Unterarm sinken und schob sich wieder unter seine Bettdecke. Seufzend fragte er sich, wie es wohl war, wenn ein anderer Mensch einem Zärtlichkeiten zukommen ließ. Oder einen nur berührte, umarmte, die Hand hielt.
Solche Bekundungen von Zuneigung gab es in seiner Familie nicht und dem Schulsprecher war erst bewusst geworden, dass ihm das fehlte, als Lucien ihn an diesem Abend vor zwei Wochen mit seinem Hund in der Schule überrascht hatte und sie für eine kleine Weile so nahe beieinander gestanden hatten. Mathieu mochte sich in dieser Nacht zum Affen gemacht haben, doch dass da etwas zwischen ihm und dem Rothaarigen war, daran bestand spätestens nach ihrer Begegnung im Regen vor einigen Stunden kein Zweifel mehr. Immerhin hatten sie einander geküsst. Nicht nur einen flüchtigen Moment lang, sondern genau so, wie Mathieu immer gedacht hatte, dass es sein müsste. Sinnlich und vollkommen ruhig, ohne Hektik, ohne die Aggression ihres ersten Aufeinandertreffens und doch mit einem bisher ungekannten Kribbeln im Bauch. Der Blonde konnte den Nachhall der Gänsehaut, die ihm über den Körper gekrochen war, als Luciens Lippen seine getroffen hatten, noch immer spüren und fühlte noch immer, dass sie nicht nur weich aussahen, sondern es auch waren. Der Rothaarige hatte sogar wirklich nach Zimt geschmeckt, ein Geschmack, den Mathieu noch einige Zeit danach auf seiner Zunge gehabt hatte, nur wegen des Ärgers mit Celeste kaum beachtet hatte.
Es war sein erster richtiger Kuss überhaupt gewesen und erst jetzt, Stunden danach, wurde Mathieu diese Tatsache bewusst. Sicher war es für Lucien nichts Neues oder Besonderes gewesen, der knutschte sich nach den Aussagen vieler Mädels an der Schule ja munter durch die Gegend.
Der Blonde seufzte resignierend. Na super. Er hatte sich in die Reihe dieser Mädchen eingeordnet, gleich irgendwo hinter seiner eigenen Schwester. Er war doch wirklich ein Trottel.
Das sinnliche Kribbeln auf seiner Haut, das durch die Erinnerung an ihren Kuss erschienen war, verpuffte und hinterließ nichts als Kälte. Warum war er nur so dumm, sich mit jedem Tag mehr in diese Sache zu verstricken? Was glaubte er, wohin es führte, wenn er damit weitermachte? Am Ende würde er wie Celeste ein Hündchen sein, das Lucien hinterher lief. Der Rothaarige war todkrank! Mathieu an seiner Stelle hätte auch kein Interesse daran, die letzten Monate mit Liebeschaos zu verbringen. So hatte er es immerhin gesagt.
Unwirsch murrend drehte Mathieu sich auf den Rücken und rieb sich über das Gesicht. Liebeschaos ... dafür bedurfte es so etwas wie Liebe und Lucien hatte deutlich klargemacht, dass er sich eher etwas abhacken würde, als sich mit dem Blonden einzulassen. Jeder andere Typ, wenn er schon ein Homo sein sollte, aber nicht Mathieu, das waren seine Worte gewesen. Sie hatten bereits in der Sekunde wehgetan, als der Rothaarige sie ausgesprochen hatte, doch das war vor beinahe einem Monat gewesen und damals standen sie noch nicht dort, wo sie jetzt standen.
Es stimmte, es wurde immer komplizierter. Mal zog Lucien Mathieu an, machte ihm Mut und bestärkte ihn und in der nächsten Sekunde stieß er ihn weg, bombardierte ihn mit seinem messerscharfen Sarkasmus und zog die Mauer um sich wieder hoch. Ganz so, als würde er selbst nicht wissen, was genau er eigentlich wollte. Wahrscheinlich war es auch so. Der Tumor in seinem Kopf hatte ihm seine Zukunft genommen und die Zeit, sich in Ruhe über so manches klarzuwerden.
Der blonde Jugendliche setzte sich schließlich auf und warf die Bettdecke zur Seite. Diese elende Grübelei über die Gedanken eines Typen, der vermutlich viel weniger nachdachte, als Mathieu es ihm andichtete, brachte doch rein gar nichts. Lucien würde nie mit ihm darüber reden oder sich ihm anvertrauen, denn er war nicht sein bester Freund. Es brachte nichts, sich selbst deswegen aufzureiben oder sich schlaflose Nächte zu bereiten. Mathieu war für niemanden die erste Wahl und schon gar nicht für jemanden, der nur noch ein paar Monate zu leben hatte und sich daher gut überlegte, wie oder mit wem er diese verbrachte.
Leise verließ der Junge sein Zimmer und huschte barfuß die Treppe nach unten in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Während das Gefäß sich unter dem Hahn füllte, starrte Mathieu darauf, ohne es wirklich zu sehen. Es lief über und erst ein leises Schniefen, ausgestoßen von dem Jugendlichen selbst, zeigte diesem, dass seine Augen das auch getan hatten.
Überrascht wischte Mathieu sich über die Wangen, doch der Strom wollte nicht versiegen. Er drückte sich die Hände auf das Gesicht und ging in die Knie, wiegte sich vor und zurück und lehnte sich schließlich an den Küchenschrank, wo er auf seinen Hintern sank und sitzen blieb.
Lucien mochte seine letzten Tage nicht mit ihm verbringen wollen, doch er, Mathieu, wollte es. Er wollte all die Jahre nachholen, in denen sie sich das Leben schwer gemacht hatten, obwohl sie genauso gut Freunde hätten sein können. Er wollte solange es ging, dass der Rothaarige ihn bei dem peinlichen Spitznamen nannte, ihn aufzog, ärgerte und über ihn lachte, obwohl er der Einzige zu sein schien, der sich wirklich Gedanken um Mathieu machte und nicht nur um das, was dieser für ihn tun oder was er leisten konnte.
Auch wenn Lucien das Paradebeispiel eines Narzissten war, fühlte es sich für den Blonden so an, als würde der Rothaarige das letzte Bisschen an Empathie für ihn zusammenkratzen. Das bedeutete nicht, dass Luciens schroffe Art Mathieu nicht immer wieder vor den Kopf stieß, doch es hieß, dass der Blonde für den Anderen wichtig genug war, um sich selbst für einen Moment hintenan zu stellen und sich auch mal zu entschuldigen, wenn er zu weit gegangen war. Das tat Lucien sonst nur bei Etienne. Bei jedem anderen machte der Rothaarige sich nicht einmal die Mühe, darüber nachzudenken, ob er denjenigen verletzt hatte.
Erschöpft ließ Mathieu den Kopf nach hinten an den Küchenschrank fallen und schloss die Augen. Atmen fiel ihm schwer, da seine Nase verstopft war und der kalte Fliesenboden war unangenehm durch den leichten Stoff seiner Hose zu spüren, doch er hatte keine Kraft, um aufzustehen. Der Wasserhahn lief immer noch und das Glas hätte schon hundert Mal gefüllt werden können. Das gleichmäßige Rauschen hatte die Geräusche seines Kummers gut überdeckt. Nicht auszudenken, wenn ihn jemand gehört und hier in der Küche am Boden sitzend und heulend gefunden hätte.
Mathieu hätte nicht einmal eine Ausrede parat gehabt, denn oberflächlich betrachtet hatte er keinen Grund zur Trauer und er konnte unmöglich die Wahrheit darüber sagen, was ihn belastete. Sein Vater würde nicht hören wollen, dass er wegen eines Jungen weinte, zu dem er gar keinen Kontakt haben durfte. Und schon gar nicht, dass ihn das unwillkommene Gefühl, eben diesen Typen ein bisschen mehr als geplant zu mögen, langsam in die Verzweiflung trieb.
Mühsam rappelte Mathieu sich auf, wischte sich mit einem Stück Zewa das Gesicht trocken und schnäuzte sich, bevor er das Glas aus dem Waschbecken nahm, es abtrocknete und schließlich füllte. Er starrte in die Dunkelheit des Raumes, ohne irgendetwas zu sehen, während er in kleinen Schlucken trank. Sein Kopf war leer. Der Weinschub hatte alle seine Gedanken beseitigt und er war so müde, dass er bereits spürte, wie er zu wanken begann. Das leere Trinkgefäß in der Spüle stehen lassend tapste Mathieu langsam wieder die Treppe hoch und fiel in seinem Zimmer auf das Bett. Ohne sich zuzudecken, vergrub er seinen Kopf in den Kissen und als er tief einatmete, glaubte er, einen Hauch von Zimt zu riechen. Sein Gehirn gaukelte ihm bereits Dinge vor, denn er war halb im Traum. Mathieu lächelte, als er in den Schlaf glitt.
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»Mathieu weiß es?« Etiennes Hand blieb auf halbem Wege zu seinem Mund hängen und er wandte Lucien seine waldgrünen Augen zu. Die beiden Jungen hockten auf dem Bett des Rothaarigen, vor sich eine Menge Knabberzeugs und im TV eine alte amerikanische Sitcom. Es war bereits mitten in der Nacht und Monsieur und Madame Walace lagen längst im Bett, weswegen die Jugendlichen leise sprachen.
Lucien nickte und kaute auf einem Weingummi herum. »Ich weiß nicht genau, wie es kam. Anscheinend wollte Celeste in meine Schulakte gucken, Mathieu ist treu seiner Pflicht dazwischen gesprungen und tja ...«, der Jugendliche zuckte mit den Schultern, doch der Junge mit den mausgrauen Haaren konnte sehen, dass es ihm nicht recht war.
»Frag’ mich, warum solche Unterlagen ganz oben abgelegt werden. Ein Blick, schon zufällig, reicht und alle wissen es. Ist doch total beschissen.«
»Aber immer noch besser als wenn eine Tratschtante wie Celeste es weiß, oder? Mathieu darf nix sagen.«
»Das ist ganz egal«, murrte Lucien und streckte die Beine aus. »Ich wollte ... ich will einfach nicht, dass es noch jemand weiß. Es reicht, dass die Lehrer Bescheid wissen mussten, zu meiner Sicherheit, bla bla. Ich wollte selbst entscheiden, wem ich das sage. Und jetzt hat der dumme Zufall nachgeholfen.«
Etiennes Lippen zuckten. Es amüsierte ihn, wie sehr sein Freund sich aufregen konnte über alles, was mit Mathieu zusammenhing. Der Aschblonde hatte schon länger ein komisches Gefühl, was Lucien und den Schulsprecher anging, wollte aber seinem Kumpel gegenüber nie etwas sagen. Es interessierte Etienne nicht, wer auf wen oder was abfuhr, doch er glaubte zu wissen, dass Lucien sich vehement verweigern würde, wenn er ihm sagen würde, dass er, Lucien, und Mathieu sich wie ein altes Ehepaar benahmen. Der Rothaarige redete in letzter Zeit immer öfter über den Schulsprecher, meist kam dieser dabei nicht besonders gut weg, doch es kristallisierte sich für Etienne ein Muster heraus. Lucien hatte das Bedürfnis, über Mathieu zu reden, wie ein Drang. Er dachte ständig über den Anderen nach und lästerte, war aber gern bereit, dessen gute Seiten hervorzuheben, wenn jemand Mathieu kritisierte. Ganz so, als würde Lucien niemand anderem außer sich selbst erlauben, schlecht über den Blonden zu reden.
So verhielten sich eigentlich nur Leute, die verknallt waren, das aber nicht zugeben wollten. Lucien würde sich eher die Zunge abbeißen.
»Was grinst du so?«, brummte der Rothaarige und musterte seinen besten Freund, der mit einem vagen Lächeln ein Gummitier zwischen seine Zähne schob.
»Ach, nichts ...«
»Etienne!«
»Na ja ... ist es wirklich so schlimm, dass noch jemand das mit deinem Tumor weiß oder ist es nur deswegen so blöd, weil es Mathieu ist?«
»Wie meinst du das?«
»In letzter Zeit scheint dich alles zu stören, was mit ihm zu tun hat. Gleichzeitig redest du in einer Tour von ihm ... na ja ...«, der Jugendliche grinste.
»Willst du irgendwas andeuten?«
»Ich weiß nicht. Findest du, dass ich das tue?«
»Du verwirrst mich.«
»Nein«, lachte Etienne leise, »nicht ich verwirre dich. Das bekommst du selbst ganz gut allein hin. Schon interessant, dass die eigenen Gedanken einen so austricksen können und wie sehr einem die Wahrheit dann ins Gesicht springt, wenn man sie endlich erkennt.«
»Was meinst du denn jetzt wieder?«
»Hmmm«, der Junge mit den mausgrauen Haaren blickte eine Weile auf eines der Rockband-Poster, »ganz ehrlich?«
»Jaaa doch!«
»Ich glaube, du bist in Mathieu verknallt.«
»Wie bitte?« Lucien setzte sich ruckartig auf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Die Hitze in seiner Brust breitete sich wie eine Flamme über seinen ganzen Körper aus und das wissende Grinsen im Gesicht seines Freundes zeigte ihm, dass seine Wangen so rot geworden sein mussten, wie sie sich anfühlten.
»Hey, das ist doch keine Schande«, lachte Etienne leise und griff ungerührt nach einem weiteren Weingummi.
»Ich ... nein. Nein! Du piepst doch«, schnappte Lucien ohne echte Aggression und presste die Lippen zusammen.
»Genau kannst es nur du wissen. Ich hab nur gesagt, was ich denke, warum du dich in letzter Zeit so verhältst. Außerdem sagte ich nur, ich glaube es. Ich glaube aber auch, dass jeder mal so eine Phase haben kann, ohne gleich ganz vom anderen Ufer zu kommen.« Der Aschblonde lächelte auf seine unaufgeregte und beruhigende Art. Lucien wusste, dass Etienne der Letzte wäre, der jemanden kritisieren oder auslachen würde. Der besaß die Allerweltsgelassenheit eines Hundertjährigen, der bereits alles gesehen hatte. Dass er ihm aber so unverblümt ins Gesicht gesagt hatte, wie sich Luciens Verhalten für ihn darstellte, hatte diesen allerdings kalt erwischt. Etienne hatte die Gabe, die Menschen intuitiv zu lesen und wenn er nun zu dieser Erkenntnis gekommen war ...
»Offensichtlich sitze ich ganz tief in der Scheiße!«