»Raus mit der Sprache!«, fauchte ihn seine Schwester an, kaum dass Mathieu die Tür hinter sich zugemacht hatte. Der Junge zuckte zusammen und sah sie entgeistert an.
»Wie bitte?«
»Wer ist sie?«
»Könntest du in vollständigen Sätzen reden wie ein normaler Mensch?«
Celeste stemmte die Hände in die Hüften und schürzte die Lippen. »Du hast doch bestimmt was mitbekommen.«
»Worüber denn, zum Teufel?«
»Lucien hat eine Freundin!«, fauchte das Mädchen und Mathieu glaubte schon fast, ihre geifertriefenden Reißzähne wachsen zu sehen vor lauter Wut.
»Was? Und ... wie kommst du darauf, dass ich da was von weiß?« Er blinzelte und zwang sich, ein unbeteiligtes Gesicht zu bewahren.
»Er geht in deine Klasse und du weißt doch sonst auch immer alles. Also, wer?«
»Was geht mich das Privatleben der anderen an, du piepst doch. Wenn’s so ist, hab’ ich keine Ahnung, okay? Interessiert mich auch nicht. Wie kommst du überhaupt darauf?« Der Jugendliche stellte seine Schuhe in den Schrank und nahm seinen Rucksack auf.
»Ich hab ihn heute morgen so was sagen hören und ich bin ja nicht blöd.«
Mathieu seufzte. »Was genau hast du denn gehört?«
»Dass sich etwas ergeben hätte, was er selbst Etienne nicht erzählen wollte. Was sollte das schon sein?«
»Keine Ahnung«, entgegnete der Blonde, »Vielleicht lässt er sich auch einfach ein Tattoo machen? Du solltest mal etwas runterkommen, sonst halten dich alle für eine verrückte Stalkerin!«
»Unsinn! Frauen stalken nicht, Frauen recherchieren.«
»Ich nenne es Nachstellung, sich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen und jemanden, der dich schon mehrfach deutlich abgewiesen hat, einfach nicht in Ruhe zu lassen.«
»Ach, Mathieu, du armer unbeleckter Irrer, was weißt du schon?«
»Ich weiß ...«, setzte der Junge zu einer Antwort an und stutzte dann. ‘Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn Luciens Körper vor Lust zittert. Ich weiß, wie er sich in einem solchen Moment anhört, wie er riecht und schmeckt!’ Ja, das hätte Mathieu gern gesagt, doch das hätte er vermutlich mit mehr als einem ausgekratzten Auge bezahlt. »Ich weiß genug«, sagte er schließlich nur und wandte sich der Treppe zu.
»Gar nichts weißt du. Du wirst schon sehen, irgendwann, spätestens wenn er und ich heiraten, wirst du es einsehen müssen.«
Mathieu drehte sich mit einem entgeisterten Blick zu Celeste um. »Du ... du bist wirklich so doof, oder? Etwas anderes kann es nicht sein, dass du so verbohrt bist, die Wahrheit nicht zu akzeptieren. Lucien will dich nicht! Und ein einziger dämlicher Kuss wird daran nichts ändern.« Der Jugendliche ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er seiner Schwester ins Gesicht geschlagen, ihr mit der flachen Hand Vernunft verschafft, damit sie endlich aufhörte, seinem Freund nachzustellen. Doch plötzlich verpuffte diese Wut. Er öffnete den Mund und statt eines weiteren Hiebs musste er laut lachen.
Natürlich, so war es. Lucien war sein Freund! Seiner! Warum also sollte es Mathieu belasten, dass sie dem Rothaarigen hinterher sabberte?
»Hast du sie jetzt nicht mehr alle?« Celeste zog die Augenbrauen hoch und schnaubte.
»Nein. Mit mir ist alles klar. Weißt du was, mach’ was du willst. Hol’ dir weiter einen blutigen Kopf. Ich geb’s auf, es gut mit dir zu meinen. Du brauchst es auf die harte Tour. Viel Spaß.« Er drehte sich herum und stieg die Treppe hinauf.
Leiser als er es eigentlich im Sinn gehabt hatte, schloss Mathieu seine Zimmertür hinter sich und lehnte sich an diese, bevor er sich durch die Haare fuhr und grinste. Es war ungemein befriedigend, seine Schwester so aufgebracht zu erleben und gleichzeitig im Geheimen der Grund dafür zu sein. Celeste konnte sich schwarz suchen, ein Mädchen an Luciens Seite zu finden.
Sie würde ihn nun sicher noch strenger im Auge behalten, doch gleichzeitig nie auf die Idee kommen, dass ihr Schwarm sich ausgerechnet mit ihrem Bruder eingelassen hatte, da sie Lucien nie im Leben für schwul halten würde. Mathieu hingegen hatte sie oft genug klargemacht, dass sie ihn für eine »Schwuchtel« hielt, aber das kümmerte den Blonden nicht mehr. Bis jetzt hatte ihr Vater dem Gerede noch keinen Glauben oder Gehör geschenkt. Er schien es glücklicherweise für pubertäres Sticheln unter Geschwistern zu halten. Sollte Monsieur Grantaine allerdings herausbekommen, dass es stimmte und sich sein Sohn ausgerechnet mit dem ‘missratenen Versager’ eingelassen hatte, würde die Luft brennen.
Doch das interessierte den Jugendlichen auch nicht. Er wollte einmal, nachdem er so viele Jahre brav gewesen war, nur an sich denken und tun, was er für sich wollte.
Die Zeit, die ihm und Lucien noch gegeben war, würde Mathieu nicht ungenutzt verstreichen lassen, nur weil sein Vater sich Sorgen um seinen dämlichen Ruf machte. Dessen Erfolg als Jurist wog bei seinen Klienten immerhin schwerer als das Privatleben seines Sohnes, das die Mandanten gar nichts anging. So zumindest sah es Mathieu. Auguste wertete das vermutlich etwas anders, doch das war dessen Problem.
Der Jugendliche legte seinen Rucksack auf den Schreibtisch, als das Handy in seiner Tasche vibrierte. Verwundert, weil sich das Whatsapp auf seinem Telefon nur rührte, wenn Anais wegen der Schule etwas fragen wollte, zog er es hervor und sah darauf, um in der nächsten Sekunde schallend zu lachen. Er würgte es ab, weil er nicht wollte, dass seine nervige Schwester ihm damit kam, doch gluckste leise, als er die Textnachricht noch einmal las.
»Hey du. Was hast du an?«, sagte sie, mit einem frechen Zwinkersmiley und einem Äffchen, das sich die Augen zuhielt, dazu.
Mathieu wollte gerade eine Antwort tippen, als ein weiterer Text kam.
»Okay, das ist total weird. Sorry.« Und wieder das Äffchen-Emoji.
Der Blonde kicherte vor sich hin, als er auf den Hörer drückte und es kurz darauf klingelte.
»Grantaine, Mann!«, knurrte ihm Lucien nach dem zweiten Läuten aus dem Lautsprecher entgegen.
»Was hast du an?«, schnurrte Mathieu, anstatt den Rothaarigen mit einem Hallo zu begrüßen und brachte damit wiederum diesen zum Lachen.
»Okay, den hab ich verdient. Dummer Scherz.«
»Fand’ ich nicht. Der kam genau richtig.«
Mathieu nahm das Telefon ans Ohr und konnte so im Hintergrund ein Rascheln hören und kurz darauf ein leises Ächzen. Offenbar hatte Lucien es sich auf seinem Bett bequem gemacht.
»Warum? Die liebe Familie?«
»Die unliebe Schwester. Wenn es nach der geht, sucht sie schon ein Hochzeitskleid aus.«
»Wer will diesen Besen denn heiraten?«, schnaubte der Rothaarige.
»Aber Lucien, wie kannst du nur. Du bist natürlich der Glückliche, weißt du denn noch nichts davon?«
»Aber nur, wenn du das Hochzeitskleid trägst«, prustete der Andere durch das Handy und lachte dann, dumpf, als wollte er nicht, dass jemand bei ihm zuhause mitbekam, dass er am Telefon war.
»Du bringst mich in Verlegenheit«, murmelte Mathieu und hockte sich auf die Bettkante. Es stimmte, sein Puls hatte einen Zahn zugelegt und er fühlte Wärme in seinem Bauch.
»Fühlt es sich gut an?«, entgegnete Lucien leise und sanft.
»Ja. Tut es.«
»Finde ich auch.«
Sie schwiegen eine Weile, in der keiner von beiden so recht etwas zu sagen wusste. Doch die Stille war nicht unangenehm. Mathieu ließ sich auf den Rücken fallen und lauschte einfach nur auf Luciens Atem. Es musste wunderbar sein, das nachts neben sich im Bett zu hören.
»Hey, was treibst du heute Nachmittag, Streber? Lernen?« Der Blonde schloss einen Moment die Augen und grinste dann. Der Rothaarige hatte wirklich ein Talent, einem die Flügel zu stutzen. Doch nun, wo Mathieu sicher wusste, dass Lucien diese kleinen Schmähungen nicht böse meinte, waren sie leichter zu ertragen. Früher wäre er wütend geworden und damit genau in die Falle des Anderen getappt, der ihn hatte provozieren wollen.
Mit einem Mal fragte der Jugendliche sich, ob das damals auch schon so gewesen war - dass Lucien ihn nur geneckt hatte, um für einen Moment im Zentrum von Mathieus Aufmerksamkeit zu stehen. Der konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass ausgerechnet dieser immer schon so abgebrühte und rockige Typ so ein Theater veranstaltet hätte, nur um ausgerechnet ihm, Mathieu, aufzufallen. Er schüttelte den Kopf. Nein, Lucien wusste damals noch gar nicht, dass es eines Tages so kommen würde, dass er sich mal für Jungs interessierte. Oder zumindest für einen, bislang. So konnte es nicht sein.
»Weiß nicht. Hast du einen Vorschlag?« Mathieu war egal, was der Andere vorhatte, solange er ihn nur sehen konnte. Der Blonde hatte bereits jetzt das Gefühl, dass sich die Wände seines Zimmers drohend zu nähern schienen. Er wollte raus, weg von Celeste und seiner lieblosen Familie, hin zu jemandem, der ihn annahm und der ihn haben wollte.
»Hast du immer noch so große Angst vor Sasha?«, hörte er Lucien fragen. Das schrille Kläffen des Grantaine’schen Familienhundes Papillon im Eingang der Villa zeigte Mathieu an, dass seine Maman nach Hause gekommen sein musste. Noch ein Grund zu verschwinden, bevor sie auf die Idee kam, Mathieu das Gassi gehen mit dem kleinen Pommeraner ans Knie zu binden, anstatt ihn einfach im Garten laufen zu lassen. Madame Grantaine mochte es nicht, wenn Papillon ihre Häufchen auf dem Rasen machte. Also zwang sie ihren Sohn, mit der Hündin zu gehen und ihre Scheiße von der Straße zu sammeln. Natürlich, das war besser.
»Höre ich da eure Taschenhupe? Mann, echt, das ist kein Hund. Der ist kleiner als eine Katze!«
»Aber dafür biestiger als jeder große. Papillon geht auch auf Katzen, weil sie einfach kein Stück erzogen wurde. Meine Maman denkt, ein so kleiner Hund braucht das nicht, weil er nicht groß genug ist, einen Menschen zu verletzen. Sie wurde aber auch noch nie von ihr in die Hacken gebissen.« Mathieu streckte die Beine aus und murrte, während sein Finger Kreise auf die Tagesdecke malte. Luciens leises Lachen direkt an seinem Ohr versetzte ihm einen wohligen Schauer. Fast konnte er den Zimtduft riechen.
»Die spüren, wenn man Angst hat oder sie nicht mag. Und so rächen sie sich. Ziemlich dumm, diese kleinen Jagdhunde nicht zu erziehen. Die Schickimicki-Tanten meinen, nur weil man sie auf Hundeshows präsentieren kann, sind es Modeaccessoires, aber die wurden ja mal zu ‘nem bestimmten Zweck gezüchtet und den bekommst du aus so ’nem Tier auch nicht raus. Die jagen halt einfach viel zu gern.«
Der Blonde musste lachen. Es tat wirklich gut, Luciens Stimme zu hören und dabei machte es dem Jugendlichen nichts aus, dass der Rothaarige über seine Mutter herzog, dass sie eine ‘Schickimicki-Tante’ war, denn das entsprach nun einmal der Wahrheit.
»Was lachst du da, Grantaine?«
»Ich höre gern deine Stimme«, gestand Mathieu und schloss die Augen.
»Möchtest du, dass ich dir das Telefonbuch vorlese? Oder warte ... agh ...«, es raschelte wieder im Hintergrund, ein leises Poltern gefolgt von einem Fluch zeigte an, dass etwas umgefallen sein musste und dann wurde die Stimme von Lucien wieder klarer. »Da, schau her, ich habe eine Teeniezeitschrift. Soll ich dir vielleicht ein paar Aufklärungstipps vorlesen? Hmmm ...«, Mathieu hörte das flatternde Geräusch, wenn jemand Seiten umblätterte und eine sinnliche Wonne überkam ihn, er hatte fast den Wunsch, zu schnurren.
»Ah, hier, Grantaine. Jean-Phillippe, zwölf Jahre, aus Marseille schreibt: ‘Mein Penis ist zu groß, mir passen keine normalen Kondome, was kann ich tun?’.«
Der Blonde prustete los.
»Oder hier: Virginie, vierzehn Jahre, aus Dijon ist besser: ‘Mein Freund sagt, wenn wir im Dunkeln Sex haben, kann ich nicht schwanger werden, weil die Spermien meine Eizellen dann nicht finden können. Stimmt das?’« Luciens Stimme hatte beim Lesen schon gezittert, weil er sich verkneifen musste, was Mathieu nun tat - nämlich ungebremst losheulen und lauthals zu lachen.
»Du siehst, Grantaine, der Aufklärungsunterricht an Schulen funktioniert einwandfrei. Für die nächste Generation an Idioten ist gesorgt.«
»Hooo Gott«, rang Mathieu nach Luft und wischte sich über das Gesicht. Er zog die Nase hoch und räusperte sich.
»Alles gut?«
»Natürlich. Es ging nie besser.«
»Sehen wir uns nachher, Mathieu?« Lucien klang fast schüchtern und das rührte den Blonden etwas, doch bevor er antworten konnte, polterte es gegen seine Tür.
»Moment ... was ist denn?«
Celeste betrat das Zimmer, musterte ihren Bruder streng und stemmte die Hände in die Hüften. »Sag mal, bist du jetzt verrückt geworden? Durch deine bescheuerte Lacherei hab ich mein Nageldesign versaut! Hörst du neuerdings Stimmen oder was geht bei dir ab?« Sie stierte auf das Handy in den Fingern des Jugendlichen und verengte die Augen.
»Was, Telefonsex mit deiner Omischlüppi-Freundin?«
Mathieu nahm das Gerät ungerührt wieder an sein Ohr. »Ich komme vorbei«, sagte er nur und beendete das Gespräch, es bedauernd, dass Celeste den Spaß versaut hatte.
»Es geht dich nichts an, mit wem ich telefoniere und wie laut. Und jetzt hau’ ab, hast du nicht ein Design neu zu machen?« Der Jugendliche legte das Handy weg, stand auf und packte seine Schwester bei der Schulter.
»Mit wem hast du denn geredet? Du hast keine Freunde!«
»Wenn du das sagst, dann muss es wohl stimmen. Und jetzt zisch’ ab, ich muss weg!«
»Nicht so schnell!«
»Boah, was denn noch?«
Das Mädchen grinste. Du weißt doch, dass Papa und Maman nächstes Wochenende nach Paris zu dieser Tagung reisen.«
»Ja?«
»Was, nur ja? Was denkst du denn, was ich vorhabe. Wir werden eine Party geben, für alle coolen Leute an der Schule. Margerites Bruder geht auf die Uni, der kennt außerdem ‘ne Menge coole ältere Typen. Aber wenn du willst, kannst du deine Omaschlüppi-Tussi einladen, dann bist du als einzig uncooler nicht so allein.« Celeste lachte und Mathieu glaubte, sich verhört zu haben.
»Das bekommst du nie durch, dass Papa das erlaubt!«
»Abwarten. Ich hab am Freitag Geburtstag, wenn du dich daran erinnerst. Und ich wünsche mir diese Party. Da du ja da bist und aufpasst, wird Papa gar nicht anders können. Du weißt doch, sein kleines Mädchen wird sechzehn.« Celeste lachte honigsüß und dem Blonden kam bald sein Essen wieder hoch.
Bedauerlicherweise stimmte es, was sie sagte. Sein Vater würde einfach ihn zur Aufsichtsperson machen und was auch immer während der Feier dann geschah oder kaputt ging, würde er zu verantworten haben.
»Ich weigere mich! Das sehe ich nicht ein. Ich mach’ nicht den Hampelmann für dich und deine bescheuerten Freunde.«
»Das kannst du nicht«, das blonde Mädchen durchbohrte ihren Bruder mit ihren eisblauen Augen, »und das weißt du genau. Wo willst du außerdem hin solange? Du hast, wie ich schon sagte, keine Freunde! Wenn du mir im Weg stehst und ich es deinetwegen nicht schaffe, bei dieser Gelegenheit bei Lucien zu landen, dann wirst du das bereuen!«
Mathieu seufzte ergeben und verdrehte die Augen. »Was willst du tun? Mit ihm deine Unschuld verlieren, auf der Party?«
»Natürlich. Das wäre doch kein schlechter Anfang!«
Sich die Nasenwurzel reibend, schob der Jugendliche Celeste aus dem Zimmer. »Ja, viel Glück, Papa von dem Vorhaben zu überzeugen. Sag’ ihm, ich werde mich nicht darum kümmern! Und jetzt hau’ endlich ab, ich muss noch mal weg!«
Die Tür hinter ihr ins Schloss werfend, lehnte er anschließend die Stirn daran. So etwas hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt, eine dumme Party voller verwöhnter Zehntklässler und vielleicht einer Handvoll Studenten, die sich womöglich nicht zu benehmen wussten. Mathieu kreuzte die Finger und hoffte inständig, sein Vater würde es Celeste verbieten, hier zuhause zu feiern.