Die beiden Jugendlichen gingen schweigend nebeneinander her, ganz ohne Eile, während der große Hund genüsslich schnupperte und sein Herrchen ihm jedes Mal eine Minute Zeit dafür ließ.
»Meine Maman zerrt Papillon immer weiter, wenn sie irgendwo schnuppern möchte. Oder nimmt sie hoch, damit sie das gar nicht erst kann«, sagte Mathieu irgendwann, als sie ein weiteres Mal für einen Moment stehen blieben.
»Deine Mum hat auch keine Ahnung, was dieses Schnüffeln für einen Hund bedeutet. Solche Halter denken, es ist einfach nur eklig. Frag’ mich, warum man sich so ein Haustier zulegt, wenn man nichts davon versteht.«
»Weil Pommeranerwelpen aussehen wie winzige Wölkchen auf vier Pfoten? Und zugegeben ziemlich niedlich sind?«
»Ja, süß sind die schon, aber die sind doch nutzlos. Nur ein bedauernswertes modisches Accessoire, das man in einer Tasche herumträgt, frisiert, in Kleidchen steckt und so dermaßen verzieht, dass die gar nicht mehr mit anderen Hunden agieren können.«
»Da sagst du was. Obwohl ich nicht finde, dass irgendein Tier nutzlos ist. Ich finde es nur doof, sie nicht mehr Hund sein zu lassen. Papillon ist wie ein drittes Kind für meine Mutter, und ihr erklärter Liebling. Dann kommt Celeste und dann irgendwann ich ...«
»Armes, reiches Kind«, schmunzelte Lucien und ergriff für einen Moment Mathieus Hand. Es war inzwischen fast komplett dunkel und kaum jemand auf der Straße. »Nimmt sie den Hund mit nach Paris übers Wochenende oder bleibt er bei euch?«
»Ach, wo denkst du hin. Eher nimmt sie Papillon mit als einen von uns! Aber das ist auch ganz gut, dann muss ich mir keine Sorgen machen, dass einer von Celestes grenzdebilen Partygästen den Hund im Suff versehentlich tot tritt oder sonst was für Scheiße anstellt. Ich vertraue den Menschen im Umgang mit so einem kleinen Tier nicht.«
»Du magst sie, oder? Also Papillon?«
Mathieu zuckte mit den Schultern und lächelte schief. »Wenn sie mich nicht immer in die Hacken zwicken würde, würde ich sie bestimmt lieb haben. Sie ist süß. Aber eben total verzogen. Trotzdem würde ich nicht zulassen, dass ihr jemand etwas antut, denn sie gehört halt zur Familie.«
»Du hättest aber lieber eine Katze ...«
»Ja. Aber ich hab in fast achtzehn Jahren keine bekommen und werde es auch in Zukunft nicht. Da muss ich warten, bis ich mal allein lebe.«
»Außer du wirst ein reisender Doktor, dann wird das nichts.«
»Oh ... na, bis dahin ist ja noch Zeit«, lächelte Mathieu und drückte Luciens Finger. Sie verschränkten sie ineinander, denn sie passierten einen Teil des Weges, der von Bäumen gesäumt war, die das Licht der Laternen schluckten. Niemand konnte sehen, dass sie einander an den Händen hielten und die beiden genossen diesen öffentlichen und doch gleichzeitig verborgenen Moment der Intimität ungemein.
»Dieses Viertel fand ich immer merkwürdig. Es liegt mitten in der Stadt und wirkt trotzdem total abgeschirmt durch die Mauern und die vielen Bäume«, murmelte der Rothaarige, als sie sich der Straße näherten, in der Mathieu wohnte. Der Blonde nickte. Wenn man die Einfahrt zum Grundstück seiner Familie nicht kannte, konnte man leicht daran vorbeifahren, denn das Viertel war wie eine Insel von einer Straße eingerahmt und die Gebäude zurückgesetzt inmitten von großen, baumreichen Gärten. Auf der anderen Straßenseite wiederum reihten sich die typischen kleinen Ein- und Mehrfamilienhäuser aneinander, manche hatten einen kleinen privaten Grünbereich, einige einen Innenhof und manche nur einen hauseigenen Parkplatz.
»Ich wünschte, es wäre nicht alles so verflucht kompliziert, dann würde ich dich einfach hineinbitten können auf ‘ne Limo, bevor du wieder nach Hause gehst«, murmelte Mathieu.
Lucien grinste. »Dafür beschließe ich jetzt einfach, dass ich am Abend der Party die ganze Nacht dableibe. Egal wie scheiße die Fete ist. Einfach nur, weil dein Vater nicht da ist, um es zu verbieten.«
Der Schulsprecher lächelte leicht. »Oh, er hat zu Celeste gesagt, dass sie nur anständige Leute einladen soll. Keine Nichtsnutze, Versager, Trinker und Schmarotzer. Der war echt nie jung. Partys bestehen doch nur aus solchen Gestalten. Und denen, die versuchen, die Möbel vor Schaden zu bewahren.«
»Ich freu’ mich fast drauf«, murmelte der Rothaarige.
»Ja?«
»Ja«, Lucien ließ Sasha Sitz machen und packte den Blonden, bevor er ihn eine schmale Nische schob, an die Wand drückte und küsste. Stürmisch, intensiv und gleichzeitig sanft. Mathieu bekam weiche Knie und schlang ihm die Arme um die Schultern. Die beiden waren so beschäftigt, dass sie die Stimmen, die sich der engen Gasse näherten, erst gar nicht wahrnahmen, bis der Blonde zusammenzuckte und lauschte.
»Nein, wenn ich es euch doch sage, mit dem Fummel würde ich jeden rumkriegen können. Er müsste schon blind sein, um das nicht zu bemerken!«, tönte es bis zu den Jungen, die im Schatten nicht zu sehen waren.
»Celeste!«, japste Mathieu leise und drückte sich tiefer in die Schatten. Der Rothaarige tat es ihm nach, konnte sich aber ein Kichern kaum verkneifen.
»Also startest du am Abend der Party den finalen Angriff auf Lucien?« Das war Margerite, ihre etwas kühle und rationale Stimme klang immer so, als würde sie nichts wirklich interessieren.
»Klar. Ich war die längste Zeit Jungfrau, Bitches!«, lachte Mathieus Schwester und dieser ließ ein leises Brummen hören. Der Rothaarige beugte sich zu ihm und biss ihm sanft ins Ohrläppchen.
»Den Stich bei ihr werde nicht ich landen, Minou, fahr’ die Krallen ein, bevor du noch jemandem ein Auge auskratzt«, flüsterte er direkt an Mathieus Haut und dieser spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken kroch.
»Pass’ mal auf«, kicherte Lucien und machte ein leises Schnalzgeräusch mit seiner Zunge, das Sasha, der vor der schmalen Gasse artig sitzen geblieben war, dazu brachte, seinen massigen Kopf herumzudrehen, sich aber nicht von der Stelle zu bewegen.
»Sasha, gib’ Laut!«, flüsterte der Rothaarige so leise, dass Mathieu ihn kaum hören konnte, doch die guten Ohren seines Hundes verstanden es und der Rottweiler ließ ein dröhnendes Bellen hören, das die Mädchen, die inzwischen auf Höhe der dunklen Nische waren, aufkreischen ließ vor Schreck. Eilig nahmen sie die Beine in die Hand und rannten davon, während Sasha mit einem breiten Grinsen und hechelnder Zunge sitzen blieb und mit dem Schwanz wedelte. Lucien trat aus der Gasse und konnte die Mädels etliche Meter entfernt im schummrigen Schein der Laternen ausmachen. Er lobte den Hund ausgiebig für sein Kunststück.
»Erstaunlich, der pariert aufs kleinste Wort, oder? Ich wünschte, Papillon wäre so gut erzogen.«
»Worte, Geräusche, Gesten. Viele Hunde sind zu intelligent, als dass man sie nicht fordern könnte. Die brauchen das, sonst langweilen die sich und werden unleidlich. Vielleicht der Grund, warum eure Teppichhupe zuschnappt. Ihr beschäftigt sie nicht richtig.«
»Meine Maman lässt sie ja kaum allein laufen, was erwartest du denn. Ein Wunder, dass sie nicht total fett ist.«
»Wenigstens das nicht. Komm, Lahmarsch, sonst tue ich dir hier in aller Öffentlichkeit noch etwas Schändliches an«, grinste Lucien und nahm die Leine seines Tieres wieder auf, deren Schlaufe er über das Ventil eines Wasserrohres geworfen hatte.
Mathieu hatte ein spitzbübisches Grinsen im Gesicht, als er an dem Rothaarigen vorbei ging und diesem dabei in den Hintern zwickte. »Das war für das ‘Lahmarsch’!«
»Au!«, lachte Lucien auf und rieb sich die Pobacke. »Okay, das hab’ ich verdient.«
»Komm’ schon, sonst wächst du noch fest.«
»Hast du es auf einmal eilig, heimzukommen und deine Schwester von ihrem Plan reden zu hören, wie sie an meinen Schwanz kommt?«
Mathieu drehte sich im Gehen um und packte dem Rothaarigen in den Schritt, bestimmt, aber sanft. Lucien stockte und keuchte auf.
»Das ist mein Schwanz und wenn sie ihn anfasst, hacke ich ihr die Hände ab!«
»Oh Mann, Grantaine, du hast keine Ahnung, wie scharf du mich machst, wenn du so drauf bist. Lass’ das bleiben oder ich werd’ hart.«
Der Blonde grinste und ließ wieder von dem Anderen ab. »Sorry«, flötete der Schulsprecher und Lucien zog eine Augenbraue hoch. Mathieu war, wenn er sich sicher fühlte, wirklich kein bisschen schüchtern - eine Eigenschaft, die der Rothaarige äußerst liebenswert fand. Es stimmte ihn nachdenklich und etwas traurig, dass der Blonde nicht immer so sein konnte, weil so viele Leute mit kleinen Hämmerchen sein Selbstbewusstsein traktierten.
Der Jugendliche raffte Sashas Leine und ging hinter Mathieu her, der die Hände in die Taschen gesteckt hatte.
»Ist dir kalt?«
»Nein. Ich überlege, wie ich es nachher schaffe, nicht zu lachen, wenn ich Celeste sehe. Wie sie vor dem Kläffen gerannt ist ...«, der Blonde gluckste leise und grinste breit.
»Stell’ dir vor, wie sie mich anlangt, dann spuckst du ihr ins Gesicht.«
»Das ist keine annehmbare Alternative, so ganz ohne Grund«, lachte Mathieu.
»Erzähl’ mir nicht, du hättest nicht irgendwo einen.«
»Vielleicht«, der Blonde legte seine Finger auf Luciens Hand. Sie waren kühl.
»Du frierst ja doch. Frostbeule.«
»Gibt bestimmt Regen. Ist ganz schön abgekühlt.« Und in der Tat hatte der Wind aufgefrischt und es roch nach Salz und Meerwasser. »Wir sollten uns beeilen ... am besten drehst du gleich um, nicht dass du nass wirst und sofort wieder mit einer Erkältung flach liegst. Dann fällt die ätzende Party, bei der ich mich nur auf dich freuen kann, für dich nämlich aus.«
»Ich will aber nicht«, nörgelte der Rothaarige und zog ein Schippchen.
»Tu’s für mich?« Mathieu klimperte theatralisch mit den Wimpern und kicherte, als Lucien ihn packte und in seine Arme zog. Der Blonde schloss die Augen und schmiegte seine Nase in den Nacken des Rothaarigen, tief seinen Duft aufsaugend, der Mathieu so ungeheuer glücklich und zufrieden machte. »Ich bekomme fast den Eindruck, du könntest mich vermissen heute Nacht«, gluckste der Schulsprecher leise und schob Lucien die kalten Finger unter die Jacke.
»Jede Sekunde«, murmelte dieser nur, fast flüsternd. Mathieu lächelte und spürte, wie ihm das Herz warm wurde.
»Na los, hau’ schon ab«, brummte Lucien schließlich und löste sich von dem Anderen.
»Sicher?«
»Nein. Aber wir müssen ja eh ... außerdem ist’s spät. Mum wartet bestimmt schon mit dem Essen. Wir haben ganz schön getrödelt.«
»Sie nimmt es dir bestimmt nicht übel.«
»Sie wird mich aushorchen«, schnarrte der Rothaarige etwas, grinste aber dümmlich. All die Sorge, die er wegen dieser Sache mit ihm und Mathieu gehabt hatte, war verflogen, denn obwohl er eh angenommen hatte, dass es seine Eltern schon aufgrund seines Zustandes nicht zu einer Riesensache machen würden, hatte er trotzdem zumindest geglaubt, dass seine Mutter nicht einverstanden sein würde. Sein Vater stand solchen Dingen allgemein sehr viel offener gegenüber als Luciens Maman.
»Gibt ja nichts zu erzählen.«
»Außer den Grund, warum du abgehauen bist neulich.«
Mathieu zuckte mit den Schultern. Das spielte nun keine Rolle mehr. Auch ihm hatte es etwas Erleichterung gebracht, dass er und Lucien wenigstens bei diesem zu Hause kein Versteckspiel spielen mussten, wenn sie zusammen sein wollten. Und solange der Blonde konnte, würde er diese aufblühende Liebe vor der Niedertracht von Monsieur Grantaine schützen.
Bei dem Gedanken zuckte der Jugendliche zusammen und etwas versetzte seinem Herzen einen Stich, doch er schob es beiseite. Er wollte jetzt nicht traurig sein und nicht an die Zukunft denken. Es zählte, was sie heute taten und dass sie jetzt zusammen sein konnten. Über das Morgen würde Mathieu nachdenken, wenn es da war.
»Du siehst schon wieder aus, als hättest du ein Gebirge auf deinen Schultern«, murmelte Lucien und legte mit einem feinen Lächeln den Kopf schief.
»Nenn’ mich Prometheus, ich dich Ikarus«, kicherte der Blonde leise.
»Das ist ungerecht, der eine ist ein Titan, der andere ein Sterblicher.«
»Der eine stirbt und der andere leidet tägliche Qualen. Ich finde, das passt.«
»Das kam unerwartet«, entgegnete der Rothaarige leise.
»Nur die Wahrheit. Aber nichts mehr für heute Abend. Der Tag war schön mit dir.« Mathieu musste sich räuspern, da es ihn verlegen machte, das auszusprechen.
»Find’ ich auch«, lächelte Lucien und Sasha gab seine Zustimmung durch ein Kläffen, das seine massige Gestalt etwas in Frage stellte.
»Okay, dann ... bis morgen.« Mathieu entfernte sich rückwärts von dem Anderen, so lange, bis er um eine Ecke musste und nicht mehr zu sehen war.
Lucien seufzte leise. »Na komm, Dicker. Gehen wir zurück. Unterwegs kannst du noch mal das Bein heben.«
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Mathieu drehte sich um und schob sich mit einem breiten Grinsen die Hände tiefer in die Taschen. Es war wirklich kalt geworden. Die Temperaturen in Biarritz fielen im Winter selten unter fünfzehn Grad, doch wenn ein Unwetter vom Meer aus die Stadt traf, konnte es ungemütlich werden. Der Wind zog an den Haaren des Jugendlichen und geduckt überquerte er schließlich die Straße, die sein Viertel einrahmte. Unter den Bäumen, wo es durch das Blätterrauschen unglaublich laut war, war es gleichzeitig spürbar wärmer.
Hoffentlich kam Lucien zu Hause an, bevor der Regen kam.
Spürbar zitternd schloss Mathieu die Haustür auf und entspannte sich augenblicklich. Er war die milden Temperaturen Südfrankreichs so sehr gewöhnt, dass er eingehen würde, wenn er weiter im Norden leben müsste.
Während er die Jacke aufhängte, konnte er das Lachen seiner Schwester und ihrer Freundinnen im ersten Stock hören. Die gehässigen Zicken schienen immensen Spaß zu haben.
Sich die Hände reibend, um das Kribbeln in den Fingerspitzen zu vertreiben, stieg er die Treppe hoch, als Celeste ihm im Flur begegnete.
»Na, bist du auch schon da, du Träne? Muss dein Leben langweilig sein, dass du den ganzen Tag in der Schule abhängst«, feixte das blonde Mädchen, doch stutzte, als ihr Bruder sie einen Moment ansah und schließlich in prustendes Gelächter ausbrach.
Margerite und Nguyen erschienen an der Tür, um zu sehen, was passiert war, doch keine der Drei konnte ausmachen, was Mathieu so amüsierte.
»Hast du irgendwas geraucht oder was steht dir zu eng?« Celeste sah den Jugendlichen entgeistert an, der immer dann, wenn er sich etwas beruhigt hatte, einen Blick auf sie warf und erneut losheulte.
»Oh, du hast ja ... keine Ahnung«, japste der Blonde atemlos. »Mir ging’s nie besser.« Immer noch prustend ging er an seiner Schwester vorbei und öffnete seine Zimmertür. Ein letztes verrecktes Glucksen, als würde er versuchen, sich zusammenzureißen, war zu hören, bevor er hinter sich abschloss.
»Was ist denn in den gefahren?«, fragte die kleine Nguyen mit ihrer piepsigen Stimme und ihre Freundinnen sahen einander nur an.
»Vermutlich ist er endlich mal flachgelegt worden. Oder er hat irgendwas geraucht, dieser Freak.« Celeste zuckte mit den Schultern, doch während Margerite und die kleine Chinesin wieder im Raum verschwanden, warf das blonde Mädchen einen verwirrten Blick auf Mathieus Zimmertür.
Obwohl sie sich eigentlich null für das Leben ihres Bruders interessierte, weil es das gar nicht wert war, hasste sie es, nicht zu wissen, was er machte. Ihr Bedürfnis nach Tratsch war größer. Irgendwas schien ihn unglaublich gut gelaunt zu haben und nein, sie gönnte es ihm nicht, wenn sie nicht wusste, was das gewesen war. Die Lipglosslippen verziehend, warf sie ihre Tür ins Schloss.