»Den Teufel wirst du tun!«, fluchte Auguste am nächsten Morgen beim Frühstück, als Mathieu ihm von seinem Vorhaben berichtete.
»Auguste!«, japste Annette Grantaine. Sie mochte es nicht, wenn ihr Gatte so fluchte, und das bereits am frühen Morgen.
»Warum nicht? Opa hat nichts dagegen und die Fahrkarten bezahl’ ich selbst. Ich«, der Jugendliche warf Celeste einen bissigen Blick zu, »brauch’ mal ein bisschen Ruhe, um zu lernen.«
»Du bist so ein Streber. Zwei Wochen Ferien und du willst büffeln. So kommst du nie zum Stich.«
»Celeste!«, schnappte Madame Grantaine nun auch ihre Tochter an. Diese zuckte nur mit den Schultern und feixte.
»Nur die Wahrheit. Mathieu ist wahrscheinlich die einzige Jungfrau in seiner Stufe. An eurer Stelle würde ich mir darüber Gedanken machen.«
Der Blonde und seine Mutter schlossen genervt die Augen, doch Auguste wollte von den Lästereien gar nichts wissen.
»Warum nicht, fragst du? Weil ich nicht zulassen werde, dass du dem alten Mann auf den Wecker fällst, so einfach.«
»Aber er hat mich doch bereits eingeladen! Du hättest nicht mal irgendwelche Kosten. Ich versteh’ das Problem nicht.«
»Hast du keine anderen Pflichten zu erfüllen?«
»Nein!«
»Trotzdem.«
Mathieu presste die Lippen aufeinander. »Kann ich aufstehen?«, fragte er spröde und erntete ein knappes Kopfnicken. Seinen Stuhl fester als nötig an den Tisch schiebend, verließ der Junge das Esszimmer. Er spürte die heißen Tränen der Wut bereits in seinen Augen. Das war so typisch. Er bat um etwas, sein Vater sagte ohne ersichtlichen Grund Nein und seine Mutter, die zur Abwechslung einmal für ihren Sohn Partei ergreifen könnte, butterte sich seelenruhig ein weiteres Brötchen. Hauptsache, sie rügte harmloses Fluchen. Wenn Celeste gefragt hätte, hätte sein Papa ganz anders entschieden, da war sich Mathieu sicher.
Mit einem Türenknallen verschwand er wieder in seinem Zimmer. Es wurde allmählich zu einer Gewohnheit, das zu tun. Immerhin war es die einzige Möglichkeit, seinen Unmut und Protest auszudrücken, denn in einer offenen Diskussion mit seinem Vater würde Mathieu entweder gnadenlos in den Boden argumentiert werden oder er bekäme ein paar gescheuert - wenn es ganz böse kam, weil Auguste zu viel getrunken hatte.
Mathieu war der Einzige in dieser Familie, der andauernd zurückstecken musste. Celeste hatte ihr Taschengeld bereits am ersten Tag des Monats verbraten und wollte neues? Natürlich! Seine Maman wollte für tausend Euro einen Wochenendausflug in ein Wellnesshotel machen? Natürlich! Mathieu wollte für eine der zwei Ferienwochen seinen Großvater besuchen und würde die Zugfahrkarten sogar selbst bezahlen? NEIN!
So war es einfach immer. Enttäuscht sank der Jugendliche wieder auf sein noch ungemachtes Bett und vergrub den Kopf in den Händen. Und da hieß es immer, Söhne hätten Narrenfreiheit und Töchter würde man mit Verboten überladen.
Müde ließ er sich nach hinten fallen und zog die Decke wieder über sich. Es war noch früh am Morgen, noch nicht einmal halb zehn, wen kümmerte es da, wenn er sich wieder hinlegte und bis zum Mittagessen durchschlief. Von seiner Familie legte niemand gesteigerten Wert auf seine Anwesenheit.
Halb im Schlaf fragte er sich beiläufig, ob Lucien wohl sauer auf ihn war, weil er einfach abgehauen war und sich nicht mal gemeldet hatte. Andererseits hatte Mathieu die Handynummer des Rothaarigen nicht und ihn über den Messenger eines sozialen Netzwerkes anzuschreiben, erschien ihm irgendwie affig. Mathieu seufzte, zog die Decke bis zur Nase hoch und schloss die Augen.
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Lucien hatte währenddessen nur wenig Zeit, über das überstürzte Aufbrechen des Blonden nachzudenken. Während er müde und mit Kopfschmerzen beim Frühstück saß, kam es ihm immer wieder so vor, als würde seine Maman ihn abschätzend ansehen. Der Jugendliche wusste nicht, ob es daran lag, dass er mies geschlafen hatte und wie ein Zombie aussah oder einen anderen Grund dafür gab. Aber er tippte auf Letzteres.
Die Sache mit Mathieu hatte ihr offenbar zu denken gegeben und jetzt malte sie sich im Kopf sonstwas für Szenarien aus.
»Was sagt ihr, fahren wir für ein paar Tage aufs Land?« Gregoire, der ebenfalls Urlaub genommen hatte, sah seine Familie an. »Ihr wisst schon, raus zum Pavillon Royale, ein bisschen Meerluft schnappen. Albért hat sicher einen günstigen Bungalow last minute für uns. Schließlich ist nur noch für die ganz Hartgesottenen und die Dauercamper Saison.«
Lucien brummte nur. Er fand den Freund seines Vaters, Albért Chirac, den Manager des besagten Campingplatzes, merkwürdig. Er roch schlecht und war irgendwie immer außer Atem, als würde ihn rund um die Uhr irgendetwas in Aufregung versetzen.
»Ist es dafür nicht viel zu kalt?«, warf Muriel ein, mit einem Seitenblick auf ihren Sohn, der seine Erkältung gerade erst losgeworden war.
»Cherie, fünfzehn Grad im November ist doch nicht kalt«, lächelte ihr Mann und Lucien nickte leicht.
»Von mir aus. Wenn ihr das wollt. Mir ist es egal.«
»Na, das klingt ja begeistert«, grinste Gregoire und der Rothaarige legte den Kopf schief.
»Was soll ich denn sagen? Eine Woche allein mit euch in einem Häuschen mit papierdünnen Wänden. Wenn ihr nun eure stürmischen Urlaubsfreuden auslebt, bekomme ich alles mit. Nicht geil.«
Madame Walace lief rot an und ihr Mann lachte schallend. »Wenn du Besuch von deinen zwei Freundinnen Rechts und Links bekommst, hören wir das auch, also bitte.«
Jetzt war es an Lucien, in seinen Tee zu prusten, während Muriel mit den Händen wedelte, streng drein schauend.
»Hört sofort mit diesen Themen auf, Jungs. Das gibt’s doch nicht.« Aber sie musste grinsen.
»Ich bin dabei wenigstens leise!«
»Oh, Herr im Himmel.« Madame Walace fächelte sich Luft zu. »Genug jetzt. Das ist ja schlimm mit euch.«
Vater und Sohn grinsten einander an. »Außerdem bin ich da total allein. Wenn wenigstens Etienne da wär’, zum Rumhängen. Wird bestimmt öde«, brummte Lucien schließlich.
»Dann sorgen wir dafür, dass es nicht langweilig wird, gehen wandern und so. Wenn sich das Wetter hält, könntest du surfen gehen.«
»Du brauchst mich nicht zu überreden, Papa. Ich hab doch schon gesagt, lass’ uns fahren. Solange ihr mich nicht mit Albért, diesem komischen Kauz, allein lasst. Der ist doch pervers.«
»Lucien ...«, Muriel schüttelte den Kopf.
»Na dann, ich werde gleich anrufen und nachfragen. Und wenn es nichts wird, machen wir uns hier eine nette Zeit. Ist ja nicht so, als hätte Biarritz nichts zu bieten, nicht?« Gregoire biss in sein Croissant und grinste. Er war guter Dinge.
Der Rothaarige sah wieder auf sein Essen. Mit einem Mal erschien es ihm nicht mehr so schmackhaft, sondern ihm war schlecht. Sein Kopf rumorte und bohrte so schlimm wie schon seit Tagen nicht mehr. Unauffällig lehnte er sein Gesicht gegen den Handballen und massierte sein Auge.
»Geht es dir gut?« Seine Mutter sah ihn von der Seite an, besorgt wie immer.
»Hmm ... hab nur meine Medikamente noch nicht genommen. Ich werd’s gleich machen, ich hab keinen Appetit mehr. Kann ich aufstehen?«
»Natürlich.«
Muriel sah ihrem Sohn nach, der von einem auf den anderen Moment bleich geworden war und die Lippen zusammenkniff, als würde er sich übergeben müssen. Sie konnte deutlich sehen, wie sehr er wankte, als er ein paar Schritte machte. Diese Momente zerrissen ihr jedes Mal das Herz. Sie hatten doch noch Zeit! Warum geschahen solche Dinge schon so früh?
Lucien versuchte, einen sicheren Tritt zu behalten. Sein Schädel fühlte sich an wie mit Watte gefüllt und auch seine Sicht verschwamm, während der Tumor biss und randalierte. Dem Jugendlichen war mit einem Mal so schlecht geworden, dass er das Gefühl bekam, seine ganzen inneren Organe würden gegen seinen Gaumen drücken.
Nur sicher ins Zimmer, dachte Lucien verbissen, die Tabletten nehmen und sich einen Moment hinlegen, dann würde sich das wieder geben, doch das Empfinden, seinem Körper immer mehr und mehr zu entrücken, wurde nicht weniger.
Zittrig lehnte er sich an den Türrahmen, der vom Essbereich der Küche in den Flur führte und atmete schwer. Er konnte spüren, dass seine Eltern ihm nachsahen, doch keiner sagte etwas. Sie wussten, er würde ihre Hilfe und ihr Mitleid nicht haben wollen.
»Lucien?«, hörte der Jugendliche wie durch einen dicken Schleier und als er sich umdrehen wollte, verlor er den Halt. Ein leises »Oh!« rutschte ihm noch heraus, bevor er ohnmächtig auf dem Küchenboden zusammenbrach.
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Ein energisches Klopfen an der Tür weckte Mathieu um die Mittagszeit und er ruckte erschrocken mit dem Kopf hoch. Murrend rieb er sich über die Augen.
»Ja?«
»Mathieu!«
Der Jugendliche seufzte, stand auf und öffnete die Tür. Sein Vater sah ihm streng ins Gesicht und für einen Moment glaubte der Blonde, wieder für etwas gerügt zu werden. Er würde es seinem Papa zutrauen, ihm eins reinzuwürgen, weil er so lange geschlafen hatte.
»Liegst du immer noch im Bett?« Auguste trat einen Schritt in das Zimmer seines Sohnes und sah sich um. Es verwunderte den Jugendlichen, dass sein alter Herr nicht sofort zur Sache kam.
»Ist irgendwas?«
Der Advokat musterte den Jugendlichen und schnaubte schließlich leise. »Wenn du zu deinem Großvater fahren willst, solltest du langsam packen. Ich fahre dich zum Bahnhof ...«
Mathieu machte große Augen. »Aber ... du hast doch ...«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Es ist keine Wiederholung nötig. Dein Großvater hat angerufen.«
Mit einem Grinsen wandte sich der Jugendliche ab. Wenn sein Papa auf jemanden hörte, war es einzig sein eigener Vater.
»Also pack’ was zusammen, dass es für eine Woche reicht. Und wehe, du gehst dem alten Mann auf die Nerven!«
»Bestimmt nicht.«
Leicht die Lippen verziehend wandte sich Auguste wieder ab und ließ seinen Sohn allein, der, kaum das die Türe zu war, leise aufjuchzte. Eine ganze Woche, die er Ruhe hatte vor Celeste und ihren Lästerattacken. Eine ganze Woche ohne die Anspannung, die er immer fühlte, wenn er zuhause war. Es würde herrlich werden und im Gegensatz zu allen anderen in seiner Familie gab ihm sein Opa nicht das Gefühl, ihn zu nerven, sondern freute sich, dass er da war.
Eifrig wählte der Jugendliche seine Garderobe für eine Woche und sortierte alles in seine Reisetasche, legte Duschsachen und ein paar Lernsachen dazu und stellte es an die Tür, bevor er im Bad verschwand, um Toilette zu machen und zu duschen.
»Das ist unfair«, nörgelte Celeste, als ihr Vater und Mathieu schließlich in der kleinen Eingangshalle ihres Hauses standen und aufbrechen wollten.
»Warum? Als hättest du aufs Land gewollt. Du weißt, dass man bei Opa weder shoppen noch tanzen gehen kann und der Handyempfang mies ist. Du würdest dich zehn Minuten nach der Ankunft schon langweilen, so wie du es immer tust, wenn wir zu ihm fahren!«
Das blonde Mädchen zog einen Schmollmund. Es passte ihr nicht, dass ihr Bruder seinen Willen doch noch bekommen hatte und fahren durfte, obwohl ihr Papa schon Nein gesagt hatte. Mathieu bekam immer, was er wollte, wenn er nur ihren Opa fragte, denn der machte keinen Hehl daraus, dass ihr Bruder sein Liebling war. Mit ihr konnte der alte Mann nichts anfangen und machte immer nur dumme Sprüche. Es gelang ihr schon lange nicht mehr, ihn so um den Finger zu wickeln, wie sie es mit ihren Vater machte.
»Zimtzicke. Kannst einem auch nichts gönnen. Wir können dann, Papa.« Mathieu gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und nahm seine Tasche, während Auguste mit dem Autoschlüssel an der Tür wartete.
»Hast du dein Geld?«
»Ja.«
»Na, dann ab, umso schneller sind wir am Bahnhof und du bist nicht erst bei Einbruch der Dunkelheit da.«
Fünf Minuten später waren sie auf dem Weg zum Gare de Biarritz, die Fahrt verlief schweigend. Vater und Sohn fanden keine gemeinsamen Themen, über die sie sprechen könnten, denn sie hatten keine gemeinsamen Interessen. Der strenge Mann kannte seinen Sohn im Grunde kaum und hatte auch wenig Antrieb, daran etwas zu ändern, solange der seine Vorstellungen erfüllte. Mathieu fühlte sich, wenn er mit Auguste allein war, immer so, als wäre er mit einem Fremden unterwegs, doch er hätte gar nicht gewusst, wie er das Eis hätte brechen sollen, um seinem Vater näherzukommen.
»Also«, brummte Auguste, als sie in der Eingangshalle des Bahnhofs angekommen waren und Mathieu sich ein Ticket gekauft hatte. »Bestell’ meinem Vater einen Gruß von der Familie und benimm’ dich bitte.«
Der Blonde nickte und Monsieur Grantaine klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter. »Pass’ auf dich auf.«
Mit der Tasche und dem Ticket in der Hand blieb der Jugendliche schließlich allein in der Halle zurück und bedauerte für einen kurzen Moment, dass der Abschied so wenig herzlich ausgefallen war. Er erinnerte sich noch, dass Auguste, bevor sie zu dem Campingausflug aufgebrochen waren, Celeste gedrückt und geherzt hatte. So etwas würde er mit seinem Sohn niemals tun. Es schickte sich in den Augen von Monsieur Grantaine nicht, allzu vertraulich mit anderen Männern umzugehen, selbst wenn es sich um das eigene Kind handelte. Mathieus Großvater war da aus einem ganz anderen Holz gemacht und der Jugendliche fragte sich, wie es dazu hatte kommen können, dass sein Papa es nicht war.
Schulterzuckend machte der Blonde kehrt und marschierte zu seinem Gleis. Es brachte nichts, sich über die Eigenheiten seines Vaters Gedanken zu machen, denn der würde sich nicht ändern. Mathieu war nur daran gelegen, sich nicht zu viel von ihm zum Vorbild zu nehmen, sondern herzlicher mit den Menschen umzugehen, die ihm wichtig waren.
Entspannt saß er schließlich in dem Abteil, hatte ein Buch auf dem Schoß und sah den übrigen Fahrgästen beim Einsteigen zu. Es war bereits Nachmittag und bald würde es dunkel werden, so viel also dazu, dass er noch vor Einbruch der Nacht bei seinem Großvater sein sollte. Doch das machte dem Jungen nichts. Sein Opa wusste, wann er ankommen würde und ihn bereits erwarten. Vermutlich bereitete er genau in diesem Moment seine berühmt-berüchtigte Fischsuppe vor, die Mathieu liebte und von der Celeste fürchterlichen Ausschlag bekam. Noch ein Grund, warum sie nicht gern zu Besuch kam. Ihr Opa machte ihr zu deutlich, für wie hohl und einfältig er sie hielt. Natürlich liebte er Celeste genauso wie Mathieu, doch der alte Mann bedauerte, dass sie mehr ihre Reize und weniger ihren Verstand einsetzte. Das machte eine Frau in seinen Augen unglaubwürdig.
Leise brummend schob der Blonde den Gedanken an seine nervige Schwester beiseite. Er hatte Urlaub von ihr und wollte den auch genießen. Mit einem Seufzen lehnte er die Stirn an die Scheibe. Endlich hatte er mal Ruhe.
Ein leises Trommeln und Knistern zeigte ihm an, dass es zu regnen begann, kaum dass der Zug sich aus der Station herausbewegt hatte. Mathieu sah in den grauen Himmel, an dem sich ein leichtes Unwetter auftürmte, und musste unwillkürlich grinsen. Die Wolken hatten die gleiche Farbe wie Luciens Augen. Ob das nun gut oder schlecht war, wusste der Blonde selbst nicht, nur, dass er es ein wenig bedauerte, dass sie sich vor seiner Abfahrt nicht mehr gesprochen hatten. Mathieu hatte irgendwie das Bedürfnis, über das, was geschehen war, zu reden.
»Das holen wir nach«, murmelte er zu sich selbst und schlug sein Buch auf.