Missmutig starrte Lucien auf das Display seines Handys. Er hatte jedes von Celestes Worten Mathieu gegenüber gehört, bevor dieser aufgelegt hatte. Diese Tussi war der Inbegriff des Cock-Blocks und hatte alles ruiniert.
Doch dann lächelte der Jugendliche. Wen kümmerte Celeste, wenn Mathieu zu ihm kommen wollte. Abschätzend warf er einen Blick auf die Uhr. Es war erst halb vier, seine Mutter würde frühestens um Sieben Feierabend haben und gegen Acht zuhause sein. Sie hatten also ein bisschen Zeit, die sie nicht wie Flüchtlinge auf der Straße verbringen mussten, damit niemand bemerkte, dass sie sich trafen.
Hektisch sprang Lucien vom Bett und begann, Ordnung in seinem Zimmer zu machen. Überall lagen schmutzige Klamotten herum, er fand Socken an den unmöglichsten Stellen. Er riss beide Fenster auf, um zu lüften und warf die gesamte Schmutzwäsche in einen Korb. Seine Maman hatte ihn schon vor Tagen gebeten, alles ins Badezimmer im Flur zu schaffen, damit sie waschen konnte, doch es hatte einen Spontanbesuch von Mathieu gebraucht, damit der Rothaarige dieser Bitte nachkam.
Schnaufend wischte Lucien sich die Haare aus dem Gesicht. Fuck, am liebsten würde er vorher noch duschen und ... Über sich selbst lachend schüttelte er den Kopf. Was war nur plötzlich los mit ihm? Warum war er so nervös? Es war schließlich nicht so, als hätten sie sich für irgendwelche Sauereien verabredet.
Lucien sog scharf die Luft ein und ging in sein Bad. Er kam sich in seiner Kribbeligkeit dämlich vor, doch er zog sich das Shirt über den Kopf, wusch sich und putzte sich gerade die Zähne, als es an der Tür klingelte.
»Oh Shit«, nuschelte er, rieb sein Gesicht am Handtuch ab und riss in der Hektik das erstbeste saubere T-Shirt aus dem Schrank. Er zog sich an, nachdem er den Summer für die Haustür betätigt hatte und wartete an der geöffneten Tür auf seinen Besucher.
»Na, du konntest es wohl gar nicht erwarten, oder, Grantaine?«, schnarrte er dem Blonden entgegen, dessen Wangen von der Radfahrt etwas gerötet waren. Es sah süß aus und stand ihm und Lucien verfluchte sich innerlich, dass er dieses Wort in Zusammenhang mit Mathieu gebracht hatte. Doch es stimmte. Einfach alles an ihm war schlicht und ergreifend süß - von seinem Lächeln zu seinen kurzen, zerzaust wirkenden weizenblonden Haaren über seinen Schmollmund bis hin zu seinen honiggoldenen Augen, die manchmal so groß und rund wie die eines Hundebabys waren.
»Und du, als hättest du etwas Besseres vor«, murmelte Mathieu, als er vor Lucien stand. Dieser lächelte, griff den Blonden an seiner Jacke und zog ihn in die Wohnung. Der Rothaarige hatte den Anderen gepackt und in einen Kuss verwickelt, noch bevor die Türe ins Schloss gefallen war.
»Hmmm«, machte Mathieu, doch löste sich dann von ihm und sah sich um. »Ist denn keiner da?«
»Nope. Mein Vater kommt erst am Wochenende von einer Flugtour, der ist jetzt irgendwo in Südamerika und meine Mum kommt erst nach Sieben.«
»Oh ...« Mathieu nestete verlegen an seiner Jacke herum.
»Kommst du?«, Lucien zeigte auf seine Zimmertür, die offenstand. Musik war aus dem Raum zu hören, etwas Lautes und Kraftvolles, anders als das, was bei Grantaines im Salon lief oder im Zimmer von Celeste.
»J-ja ...«, der Blonde streifte die Schuhe ab, nahm sie und folgte dem Rothaarigen in dessen kühles Zimmer. Die Gardinen tanzten im Wind des Luftzuges.
»Irgendwie habe ich das Gefühl, du hast aufgeräumt, als du wusstest, dass ich herkomme.«
Lucien lachte verlegen und ertappt. »Ja. Ich stelle mir immer vor, dass bei dir nie etwas herumliegt und na ja ... du hast mein Zimmer letztens gesehen.«
»Du kennst Celeste da nicht. Die ruht sich so sehr darauf aus, dass unsere Haushälterin das macht, dass sie nicht mal daran denkt, ihr benutztes Geschirr in die Küche zu bringen. Oder ihre Schmutzwäsche irgendwo zu sammeln.« Mathieu zuckte mit dem Kopf in Richtung des Korbs und der Rothaarige fuhr mit roten Wangen herum. Er hatte doch echt vergessen, das dumme Ding ins Bad zu bringen?
»Oh Mann ...«
»Und«, Mathieu hörte selbst, wie schnurrend seine Stimme klang, was ihn verlegen machte, aber nicht abstellen konnte, »du warst im Bad. Ich rieche es.«
»Hektisches Aufräumen und das Aufspüren von Stinkesocken führt zu Schweißausbrüchen«, murmelte Lucien und grinste leicht. »Und vielleicht auch ein bisschen die ... Vorfreude ...«, er räusperte sich.
»Das meine ich nicht«, der Blonde blieb auf wenige Zentimeter vor dem Anderen stehen, hob die Hand und wischte ihm etwas Zahnpasta aus dem Mundwinkel. Zwinkernd leckte Mathieu sie ab und neigte den Kopf.
»Gibt es was Blöderes als Pupsatem?«
Der Schulsprecher machte große Augen und fing zu lachen an. »Nein. Ich hoffe, ich bin okay?«
Statt einer Antwort zog Lucien ihn wieder an sich heran. Mathieu bekam weiche Knie, doch der Rothaarige hielt ihn fest und als er sich wieder gefangen hatte, griff Lucien nach seiner Jacke und zog sie ihm aus.
»Es ist kalt hier drin«, murmelte Mathieu und erntete ein freches Grinsen.
»Du kannst ja solange unter meine Bettdecke kriechen. Ich mach’ dann die Fenster zu. Meine Maman mag es nicht, wenn ich im Zimmer rauche, also ... und ich musste eh mal lüften.«
Der Blonde schmunzelte leicht. Es schien, als hätte sich Lucien bemüht, einen guten Eindruck auf Mathieu zu machen. Das war etwas, das in ihrer gesamten gemeinsamen Vergangenheit noch niemals vorgekommen war. Die Lippen zusammenpressend, nickte er. Es berührte Mathieu unangenehm, diese vielen ersten Male, die ihm nur deutlicher machten, wie dumm sie beide gewesen waren, sich die ganzen Jahre anzumachen, anstatt einfach Freunde zu sein.
Er verschränkte die Beine im Schneidersitz und sah Lucien dabei zu, wie der die Fenster schloss und die Gardinen richtete, bevor er den Blonden ansah. »Ist dir so kalt, dass ich die Heizkörper einschalten muss? Oder reicht eine Decke? Du kannst auch einen Pulli haben.«
Mathieu kräuselte die Lippen und legte den Kopf schief. »Nichts davon. Wenn kein frischer Wind hereinkommt, reicht das schon.« Er seufzte und sah sich dieses Mal etwas offener in dem Zimmer um. »Ich mag es hier. Mein Vater würde einen Anfall bekommen wegen der ganzen Poster.«
Lucien kletterte zu dem Anderen aufs Bett und lehnte sich an das Kopfteil. »Dein Alter hat auch ‘nen Stock im Arsch und war nie jung, oder?«
»Fühlt sich nicht so an«, entgegnete Mathieu und betrachtete den Rothaarigen.
»Ist was?«
»Nö, aber ... dein Shirt ist links herum. Hattest du es eilig vorhin?«
Lucien sah an sich herunter und knurrte. »Och, sag’ mal! Nur Fettnäpfchen heute.« Er richtete sich auf und zog sein Oberteil ungerührt aus, um es richtig herum zu drehen. Wieder konnte Mathieu nicht anders als einfach hinzuschauen. Er grinste dämlich, doch verhindern konnte er es nicht.
Der Rothaarige bemerkte es und schmunzelte. »Möchtest du vielleicht ein Foto machen?«
»Nein, aber ... aber wegen mir kannst du das Shirt auch auslassen ...«
»Willst du mir vielleicht wieder ein bisschen den Buckel kratzen? Mir wäre das recht«, Lucien grinste und warf Mathieu das Shirt ins Gesicht, der es auffing und ihm damit eins überzog.
Flink packte der Rothaarige das Handgelenk des Anderen und zog ihn näher an sich heran. »Wenn du mich verdreschen willst, Grantaine, braucht es ein bisschen mehr als das«, zischte er durch die Zähne und seine dunkelgrauen Augen blitzten neckisch.
Mit einer Bewegung und ein bisschen Schwung platzierte sich der Blonde auf Luciens Schoß und legte ihm die Arme um den Nacken.
»Oh, hi. Du bist ganz schön frech, du«, grinste der Rothaarige und Mathieu zuckte mit den Schultern. Ihm war egal, ob sein Verhalten überstürzt war oder merkwürdig erschien. Durch den Druck zuhause und den täglichen Kampf mit den Allüren seiner Schwester wollte der Jugendliche eine Zuflucht für sich, bei der er sich nicht zu verstellen brauchte und für Schüchternheiten war es einfach viel zu spät. Sie hatten zu viel Zeit ungenutzt verstreichen lassen und zum ersten Mal seit langem, wenn nicht sogar zum ersten Mal in seinem Leben, fühlte Mathieu sich wohl, willkommen und richtig.
Er grub seine Finger in Luciens Haar und presste die Nase an seinen Hals, bevor er tief einatmete und seufzte.
»Oh Mann, Grantaine, du bringst ja ein Gebirge an Sorgen mit«, brummte der Rothaarige, legte die Arme um den Blonden und ließ sich mit ihm nach hinten sinken, worauf Mathieu auf ihm zusammengekauert und angeschmiegt liegen blieb.
»Ich bin so müde«, murmelte er und dieses Mal war es Lucien, der ihm den Rücken streichelte, sanft nur, mit einem Finger.
»Willst du ‘ne Runde ablästern? Was wollte der Hausdrachen von dir, vorhin, als wir am Telefon waren?«
»Mein Lachen hat ihr Nageldesign ruiniert.«
»Watt?«
»Ja, frag’ mich nicht. Hat sich erschreckt, keine Ahnung, mir egal. Sie hat es jedenfalls versaut.«
»Wolltest du dich gerade befummeln, weil du meine Stimme so geil fandest?«, flachste Lucien und der Blonde lachte leise.
»Nein. Aber es war lustig und ich fühlte mich gut. Bis sie kam und mich vertrieben hat. Aus meinem eigenen Zuhause. Ich bin das alles so leid ...«
»Ehrlich gesagt, ist es so besser als über das Telefon«, murmelte Lucien und drehte leicht den Kopf zu Mathieu. Der nickte und presste sich etwas enger an den Rothaarigen.
»Können wir uns nicht in eine Höhle verkriechen und nie wieder herauskommen?«
»Ich bekomme fast den Eindruck, du magst mich, Grantaine«, lachte Lucien leise und kraulte dem Anderen den Nacken.
»Ich kann’s mir selbst nicht erklären.«
»Na, Gegensätze ziehen sich doch bekanntlich an.«
»Gegensätze bringen sich vor allem extrem schnell gegenseitig aus der Puste. Ich weiß nicht, ob ich so etwas aushalten würde. Immer wieder zu kämpfen, um einen Kompromiss zu finden. Das habe ich zuhause schon zur Genüge.«
Lucien fuhr dem Blonden mit der Hand durch die Haare am Hinterkopf und brummte genüsslich. »Ich hab’ zwar damals im Camp was anderes gesagt, aber ich glaube nicht, dass du als Jungfrau mittleren Alters in einer Butze voller Katzen endest. Und am wenigsten denke ich, dass du länger bei deinen Eltern bleibst als nötig ist. Also hast du die Phase bald hinter dir.«
»Zum Glück ...«, murmelte Mathieu an Luciens Hals und lächelte leicht. Wie aufregend es sein würde, seiner Haut so nahe zu sein, hätte sich der Blonde im Traum nicht ausgemalt. Die Wärme, die davon abgegeben wurde, war immens und gleichzeitig so gemütlich, dass Mathieu nur zu gern geschlafen hätte. Er versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, doch Lucien bemerkte es.
»Grantaine, du bist schwer. Geh’ runter von mir.«
»Oh ... o-okay.«
Mathieu fiel neben ihm in die Kissen und sah völlig verlegen aus. Er hatte gar nicht daran gedacht, dass sein Gewicht für den Anderen eine Belastung sein könnte.
Lucien setzte sich auf, rieb sich durch die dunkelroten Haare und streckte sich, bevor er eine Decke heranzog, die am Fußende lag. Mit ernstem Gesicht breitete er sie aus und zog sie sich und Mathieu über die Beine, bevor er sich wieder hinlegte und den Blonden am Arm packte. Sanft, aber bestimmt, brachte er Mathieu so dazu, wieder zu ihm zu kommen und mit dem Kopf auf seiner Schulter zu liegen.
»Also. Dass du ihre Nägel versaut hast, ist doch bestimmt nicht der Grund, dass du das Zentralmassiv mit dir herumträgst, oder?«
Der Blonde kaute einen Moment an seiner Lippe herum. Nein, das war es nicht nur, sondern der immer in seinem Schädel bohrende Gedanke, was mit Lucien irgendwann in der Zukunft passieren würde. Dass all das, was dieser ihm gesagt hatte, dass Mathieu irgendwann nicht mehr zuhause leben würde und dergleichen, geschehen würde, nachdem Lucien schon lange nicht mehr da war. Es machte den Schulsprecher traurig, doch er wollte auch nicht darüber reden, da der Rothaarige das als Mitleid auffassen und nur sauer werden würde. Dabei war es das nicht einmal - und wenn doch, hatte Mathieu es mit sich selbst. Er kam sich egoistisch vor, sich selbst zu bedauern, doch er konnte nichts dagegen tun. Er wollte Lucien nicht verlieren, egal wie sich das mit ihnen entwickeln würde, ob sie zusammenblieben bis zum Schluss oder vielleicht einfach wieder in ihr altes Muster aus Kabbeleien zurückfallen würden. Mathieu wusste nun, dass der Rothaarige ihn nicht hasste und das war genug.
»Ähm«, machte der Blonde deswegen und räusperte sich, »Celeste will eine ‘Sweet Sixteen’-Party. Du weißt schon, wie in Amerika.«
»Und?«
»Und da sie diesen Freitag Geburtstag hat und meine Eltern übers Wochenende nach Paris fliegen zu einer Tagung, rate mal, wer auf die ganze Kacke aufpassen darf, wenn mein Vater es ihr erlaubt?«
»Oh, ich sehe das Problem. Aber ich denke, dein Alter ist so spießig? Der lässt die doch keine Party in eurer Bonzenvilla feiern, oder?«
»Ich hoffe nicht. Aber andererseits bekommt sie immer alles, was sie will.« Mathieu seufzte und ließ seinen Zeigefinger über Luciens Brust wandern.
»Vielleicht auch nicht. Außer er ist so weltfremd, dass er denkt, sie und ihre Freunde spielen den ganzen Abend Monopoly, anstatt abwechselnd im Elternschlafzimmer zu fummeln und sich hemmungslos zu besaufen.«
»Das wird mein Vater nicht erlauben. Aber das ist Celeste egal. Sobald die beiden weg sind, schafft sie irgendwie den Suff ran. Margerite hat doch ‘nen älteren Bruder. Und wenn nicht, muss ich. Ich bin schließlich über sechzehn.«
Lucien schnaubte. »Wir dürfen auch nur Bier kaufen, ich glaube kaum, dass ihr das reicht. Mal’ nicht den Teufel an die Wand, Grantaine. Vielleicht machst du dir ganz umsonst Sorgen und dein Alter behält endlich mal die Eier in der Hose und sagt ihr, dass sie sich das abschminken kann. Du hast auch keine Party bekommen, oder?«
»Ich wollte keine ... Ich mag so was nicht so gern. Ich wurde aber auch nicht gefragt. Hattest du eine?«
»Nö, ich war letztes Jahr zu meinem Geburtstag mit meinen Eltern in Paris. Halt der Nachteil, ein Sommerkind zu sein. In den Ferien bekommt keiner mit, dass man Geburtstag hat. Nicht mal Etienne war da, weil der zuhause bei seiner Familie war. Aber das macht nichts. Ist ja nicht so, als wäre der Sechzehnte hier so was Besonderes. Der Achtzehnte vielleicht. Wenn ich den erlebe ...«
»Oh, hör’ auf damit«, murmelte Mathieu leise.
»Leider eine Tatsache, Grantaine.«
Der Blonde nickte und schloss die Augen, während Lucien mit dem Finger sein Ohrläppchen und den Nacken streichelte.
»Ich bin so müde«, nuschelte Mathieu nach einer Weile.
»Wir könnten schlafen?«
»Ja? Würdest du nicht lieber was anderes tun?«
Der Rothaarige lachte. »Ich frage mich, für was für einen sexbesessenen Freak du mich hältst.«
»Das hast du jetzt gesagt. Ich dachte eher an ... ich weiß nicht, andere Sachen«, schmunzelte der Schulsprecher und hob den Kopf etwas.
»Andere als Rummachen?«
»Ja. Das ist doch nicht alles, oder?«
»Nee, aber es macht Spaß.«
»Ja«, bestätigte Mathieu und spürte Wärme in seinen Wangen.
Lucien drehte sich zu dem Anderen um und lehnte seine Stirn an die Mathieus. »Egal, was da über mir schwebt, das bedeutet nicht, dass wir irgendetwas übereilen müssen, weil da irgendeine Angst ist, etwas zu verpassen. Das will ich gar nicht. Okay?«
»Okay.«