»Ich bin ja froh, dass es dir besser geht«, brummte Etienne am Montag unter dem Fahrradunterstand. Er sah seinen Freund wenig freundlich an, was diesem zeigte, wie sehr es den Aschblonden belastet hatte, Lucien nicht im Krankenhaus besucht zu haben. Dass der einen Schwächeanfall gehabt hatte, hatte Etienne Sorgen gemacht, doch er hatte auch nicht mal so eben nach Biarritz zurückfahren können.
»Das tut es. Hörst du dann jetzt auf, mich so böse anzusehen?«, lächelte der Rothaarige.
»Ich bin ja gar nicht sauer auf dich. Aber ich finde, ich hätte hier sein sollen.«
»Etienne, kratz’ den Schlüpfer aus der Ritze, mir geht es wirklich gut. Hauptsache, du hattest Spaß zuhause.«
»Schon ...«
»Gut! Mir macht doch ein bisschen Krankenhaus nichts aus, weißt du doch.«
Sie beide wussten, wie sehr Lucien solche Einrichtungen hasste, aber der Junge mit dem mausgrauen Haare nickte schließlich und lächelte schief.
»Ist sonst irgendwas passiert?«
»Zählen explosionsartiger Durchfall wegen der neuen Medikamente und ein Monster-Haschtrip auch dazu?«
»Agh, igitt«, prustete Etienne.
»Ja, das kannst du laut sagen. Gut, dass sich das schnell eingependelt hat. Ich war irgendwie die ganzen Ferien über nichts Halbes und nichts Ganzes.« Lucien lächelte versonnen, als er an den Nachmittag auf dem Spielplatz dachte. Das war der einzige Tag gewesen, an dem es ihm wirklich gut gegangen war.
»Verrätst du mir, woran du denkst?«, schmunzelte der Aschblonde und Lucien glaubte, einen wissenden Ausdruck in seinem Gesicht zu erkennen.
»Bestimmt nicht das, was du denkst, Alter.« Der Rothaarige knurrte leise und schulterte seinen Rucksack, als es klingelte. Etienne lachte leise.
»Wenn du denkst, dass ich das denke, heißt das, du denkst genau daran.«
»Watt?«
»Nichts, alles gut«, kicherte der hochgewachsene Junge und folgte seinem Freund ins Schulgebäude. Etienne grinste vor sich hin. Lucien hatte nichts weiter mehr zu seiner Aussage, dass er Mathieu mochte, gesagt und der Aschblonde würde damit auch nicht mehr anfangen, um seinen besten Freund nicht in Verlegenheit zu bringen. Das war für Lucien bestimmt eine große Sache und ‘Gefühle und Liebeskram’, wie er es nannte, waren noch nie seine Stärke gewesen. Da standen ihm sowohl sein Stolz, seine Unerfahrenheit und ein Stück weit auch seine weniger bekannte Schüchternheit auf dem Gebiet im Wege. Denn so dicke der Rothaarige sich auch aufführte, dass ihn das alles nicht interessieren und es ihm null ausmachen würde, wenn jemand, den er gern hatte, nicht das Gleiche empfand, so unsicher und zerbrechlich war sein Ego in Wahrheit. Denn niemand mochte es, einen Teil seiner Gefühle zu verschenken und abgewiesen zu werden - das verletzte nun einmal, auch wenn man es nicht ändern konnte. Lucien hatte zwar Unmengen von Verehrerinnen, doch er hatte in all der Zeit, in der Etienne ihn nun kannte, noch keine einzige Chance ergriffen, sich wirklich mit einem der Mädchen zusammenzutun.
Er hatte einige Dates gehabt, die nie über ein bisschen Knutschen hinaus gekommen waren und war auch niemals so weit gegangen, die Mädels für sein körperliches Vergnügen auszunutzen. Das war ein Zug an ihm, den Etienne sehr bewunderte, denn sicher hätten nicht viele so beliebte Jungs sich so ehrenhaft verhalten, sondern jedes sich bietende Angebot für Sex weidlich ausgekostet.
Gerüchte über ausschweifende erotische Eskapaden, verbreitet von den Mädchen, die gern mit Lucien zusammen gewesen wären und sich mehr erhofft hatten, hatten sich seit Beginn der Oberstufe zwar verbreitet, aber nur Etienne wusste, dass es eben nur das waren: Gerüchte.
Er wusste, dass sein bester Freund noch überhaupt nie Sex gehabt hatte und es ihm damit eigentlich - bis zur Diagnose und der Angst, ohne diese Erfahrung zu sterben - auch nie eilig gewesen war. Und selbst jetzt noch, wo seine Monate gezählt waren, konnte sich Lucien noch immer nicht dazu durchringen, es einfach mit irgendeinem Mädchen hinter sich zu bringen, obwohl es seinen Liebesbriefchen und dem Gekicher vieler Mädchen nach nicht an potentiellen Partnerinnen zu mangeln schien. Das amüsierte und rührte Etienne etwas.
Offenbar empfand Lucien das ‘erste Mal’ doch als einen zu wichtigen Schritt, um es einfach an eine völlig belanglose Person zu vergeuden.
Der Aschblonde war immer ein bisschen erstaunt über den scheinbar zu hohen Anspruch gewesen, den sein bester Kumpel an eine mögliche feste Freundin zu stellen schien, doch Etienne wäre in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, dass Lucien vielleicht gar nicht auf Mädchen stand. Und dem war das anscheinend auch nie aufgefallen, denn er hatte immer Flirts gehabt, aber stets etwas gefunden, was ihn gestört hatte, weswegen er seit der Mittelstufe mit keinem Mädchen mehr gegangen war.
So aufgeführt wie bei Mathieu Grantaine - ständiges über ihn reden, Necken und Anstacheln und bewusstes oder unbewusstes Suchen von Nähe - hatte sich der Rothaarige zuletzt im Collége, kurz bevor er seine erste Freundin, Anita, gehabt hatte. Die hatte Lucien böse mitgespielt und der Junge mit dem mausgrauen Haar hatte immer gedacht, das wäre der Grund dafür, dass der Rothaarige so extrem wählerisch geworden war.
Etienne hatte geglaubt, Lucien suche ein Mädchen, das so war wie Anita, nur ohne das Bitchverhalten. Doch nun glaubte der Aschblonde, dass er die ganze Zeit auf dem Holzweg gewesen war.
Schweigend folgte Etienne dem Anderen zu ihren Spinden und grinste, als sein Freund gegen die Tür schlug, deren Schloss wieder einmal klemmte.
»Ich werde nachher zum Hausmeister gehen. Das ist ja nicht zu ertragen. Du ärgerst dich lieber als das reparieren zu lassen, oder?«
»Das hält meinen Pegel aufrecht, mon ami«, lachte Lucien leise, sperrte die Blechtür auf und schob seine Bücher in den Schrank.
»Ob Wut so das Richtige ist vor einer Stunde Geografie mit Monsieur Cartier?«
»Ach, so ein Mist. Du hast recht. Ich wollte mir vorher was reinziehen, damit er wieder einen Grund hat, mich dumm anzumachen. Dieses Mal wäre es dann wenigstens gerechtfertigt gewesen. Meine Mum wäre fast aus dem Schlüpfer gehüpft, als ich ihr seine Unterstellung erzählt hab. Ich und besoffen, tze.«
Etienne lachte. Madame Walace konnte anschwellen wie ein Ochsenfrosch, das war bestimmt eine Show gewesen.
»Salut!«, hörten die beiden hinter sich und der Aschblonde, der gerade Lucien zugewandt stand, konnte deutlich erkennen, dass dieser den Rücken versteifte, nur leicht, aber sichtbar für jeden, der seine Körpersprache kannte.
»Grantaine, Alter«, knurrte der Rothaarige leise in seinen Spind, doch Etienne glaubte, seine Lippen zucken zu sehen, als ob er sich zwingen musste, nicht zu grinsen. Beiläufig, so erschien es, warf Lucien einen Blick zu seinem Freund, wie um abzuschätzen, ob der etwas gemerkt hatte.
Etienne zwang sich, ein vollkommen neutrales Gesicht zu bewahren. Wenn es dem Anderen peinlich war, dass er so auf Mathieu reagierte und nicht wollte, dass sein Kumpel es bemerkte, dann würde Etienne eben so tun, bis Lucien bereit war, es ihm gegenüber zuzugeben. Oder auch nicht.
»Salut«, rief der hochgewachsene Junge Mathieu zu, während der Rothaarige weiter seine Sachen unordentlich in seinen Schrank stopfte, fluchte und das schwere Geografiebuch wieder herausnahm.
»Irgendwann schmeiß’ ich das jemandem an den Kopf, ey«, fauchte Lucien und schlug die Spindtür zu.
»Der Wutpegel steigt?«
»Unermesslich. Wollen wir Celeste was in den Kragen stecken?«
Etienne lachte prustend, aber leise. »Was denn?«
»Weiß nicht, ich hab saure Gurken dabei. Vielleicht die?«
»Das wirst du schön bleiben lassen«, schnarrte eine Stimme hinter ihnen und Lucien wandte den Kopf herum. Es kostete ihn immense Willenskraft, beim Anblick von Mathieu nicht zu lächeln oder sonst irgendein Anzeichen von Freude zu zeigen. Der Schulsprecher trug wie üblich eines seiner Hemden, babyblau-kariert, und eine schwarze Krawatte - ein Outfit, das Lucien vor wenigen Wochen noch spießig genannt hätte, doch an diesem Morgen erschien ihm das so verdammt sexy, dass er es beinahe körperlich fühlen konnte.
»Warum nicht, Grantaine? Schiss, dass du die Schuld bekommst?«
Mathieu sah vollkommen ernst aus, nur ein leichtes Blitzen in seinen honigfarbenen Augen zeigte, dass er es nicht war. »Weil man mit Essen nicht spielt und ja, ich mir das Theater dann anhören darf. Darauf hab ich keinen Bock, nicht schon am ersten Schultag.«
»Also morgen ist’s okay? Ich bring’ was Ekliges mit.«
»Nein!« Der Schulsprecher rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf, als es zum zweiten Mal klingelte. Jetzt hieß es Sputen, denn die Stunde begann. Etienne nahm seine Tasche und reihte sich in die Schüler ein, die durch den Gang liefen. Lucien folgte ihm und streifte dabei unauffällig Mathieu.
Der musste sich zusammenreißen, um nicht zu grinsen, als der Rothaarige kurz seine Hand drückte. Für einen Moment nur sahen sie einander in die Augen, bevor Lucien vorüber war und zu seinem besten Freund aufschloss. Mathieu zwang sich, leise und ruhig auszuatmen. Der Duft des Rothaarigen hing noch in der Luft und ließ den Schulsprecher mit einem wohligen Schaudern an die erlebte Zeit denken. War das wirklich schon über eine Woche her?
Er hatte während der letzten Ferientage mal bei Lucien angefragt, ob der mit ihm spazieren gehen wollen würde, doch die schwere Unpässlichkeit des Rothaarigen war ihnen dazwischen gekommen, weswegen sich Mathieu die letzten Tage in seinem Zimmer verbaut, gelernt, gelesen und ferngesehen hatte. Familienaktivitäten hatte es im Hause Grantaine keine gegeben, sah man von einem Ausflug von Mutter und Tochter in den Schönheitssalon ab. Celeste hatte darauf bestanden, sich eine neue Frisur machen zu lassen und stolzierte nun wie ein Pfau in der Schule herum, um ihre kecke Bob-Frisur auch ja überall zu zeigen. Es wunderte den Blonden, dass sie nicht just in der Sekunde hier gewesen war, als der Rothaarige und sein bester Freund vor ihren Spinden standen.
Seufzend machte der Jugendliche kehrt und folgte seinen Klassenkameraden zum Geografieraum, wo ein äußerst mies gelaunter Monsieur Cartier seine Schüler schon erwartete.
Lucien und Etienne saßen auf ihren Plätzen ganz hinten und es fiel Mathieu schwer, nicht dümmlich zu lächeln, als er an seinen Tisch ging, der nur durch den Gang von dem Rothaarigen getrennt war. Als sie sich das letzte Mal hier gesehen hatten, war Lucien kurze Zeit später fast ohnmächtig geworden, so krank war er gewesen.
»Sind alle da?«, knurrte der massige Lehrer, als sich die Türe hinter dem letzten Schüler schloss. Keiner wagte etwas zu sagen, nicht wenn der Mann so wütig aussah. Selbst die ganz harten Tuschler, wie Thomas und Angelique, waren verstummt. Brummig wie ein hungriger Wolf ging Monsieur Cartier die Anwesenheitsliste durch und als er bei Lucien ankam, der wegen seines Nachnamens der Letzte in der Liste war, merkte er auf.
»Ach, sieh an, sind wir auch wieder da, Walace? Du schuldest mir für deine Unverschämtheit noch ein Nachsitzen. Mir ist egal, ob der feine Herr Schulsprecher versucht hat, das auszusetzen. Hier zählt, was ich sage!«
Lucien sah zu Mathieu und lächelte, bevor er wieder nach vorn sah. »Welche Unverschämtheit genau, Monsieur? Dass ich trotz Krankheit in Ihren Unterricht gekommen bin? Seien Sie doch froh, dass ich nicht schon zu Beginn in den Mülleimer gekotzt habe.«
Einige lachten, doch ein Hieb mit dem Lineal auf das Lehrerpult ließ sie verstummen. Man konnte das Gefühl bekommen, sich in den 1950ern zu befinden und nicht im 21. Jahrhundert.
»Das weißt du ganz genau. Mir ist es vollkommen egal, was Grantaine in seinen Unterlagen zu deiner Akte vermerkt hat. Ich erkenne einen betrunkenen Schüler, wenn ich einen sehe. Der unappetitliche Angriff auf zwei deiner Mitschüler mit dem schmutzigen Taschentuch kommt noch dazu!«
Sowohl Lucien als auch Etienne und Mathieu protestierten.
»Angriff? Geht’s noch? Ich hab’ mich nur verteidigt!« Der Rothaarige sah zu dem Typen, dem er das Tempo ins Gesicht geworfen hatte. »Bist du krank geworden?«
Der Angesprochene schüttelte den Kopf und Lucien brummte.
»Sehen Sie? Und zum x-ten Mal, ich war nicht betrunken! Ich hatte Vierzig Grad Fieber, fragen Sie die Krankenschwester!«
»Bleibt immer noch das unverschämte Verhalten deinen Mitschülern gegenüber. Erstens respektlos und zweitens unverantwortlich. Mir ist ganz egal, was andere dir an Narrenfreiheiten gewähren, weil ihnen die Autorität fehlt, mit einem Störenfried wie dir umzugehen. In meinem Unterricht dulde ich das nicht. Es bleibt beim Nachsitzen, Walace!«
»Boah, fick’ dich doch, Alter«, knurrte Lucien leise zwischen den Zähnen hindurch.
»Wie war das, bitte?!«, polterte Monsieur Cartier aufgebracht. Zum Glück für diesen, hatte der Lehrer den Rothaarigen nicht verstanden, sonst hätte es mehr gesetzt als Strafstunden.
»Nix! Und wann gedenken Sie, Ihr blödes Nachsitzen abhalten zu wollen? Soll ich Ihnen vielleicht die hundert Jahre alten Karten im Nebenraum neu beschriften oder was hätten Sie gern?«
»Das werde ich dich dann schon wissen lassen. Und jetzt habe ich genug. Wir sind für den Unterricht hier und nicht, um kindische Aufstände abzuhalten. Hefte raus!« Monsieur Cartier drehte sich zur Tafel, was Lucien nutzte, um ihm den Mittelfinger hinzuhalten. Etienne prustete in sein Schreibheft und selbst Mathieu musste grinsen. Noch vor ein paar Wochen hätte er es furchtbar gefunden, wie der Rothaarige sich dem Lehrer gegenüber aufführte und hätte es befürwortet, dass er Nachsitzen bekam.
Doch jetzt fand er Monsieur Cartiers Maßnahme schlichtweg ungerecht und dass er über Mathieus Erklärung zu dem Sachverhalt einfach hinweggegangen war, war genauso mies. Der Schulsprecher fühlte sich richtiggehend persönlich von dem Geografielehrer beleidigt.
»Danke für den Versuch«, hörte der Blonde Lucien über den Gang flüstern.
»Hab’s doch versprochen.«
»Ruhe jetzt, verdammt, bevor ich euch beide hinauswerfe. Auch du, Grantaine, Schulsprecher oder nicht, du bekommst hier keine Extrawurst.«
»Na, nun halten Sie mal den Ball flach. Ich hab geredet, okay?«, knurrte der Rothaarige rotzig und einige der anderen Schüler wandten verwundert den Kopf, um ihn anzusehen. Es war noch nie zuvor vorgekommen, dass er Partei für Mathieu ergriffen hatte.
»Was glotzt ihr denn alle so? Wollt ihr vielleicht ‘n Passbild?«
»Vor die Tür, Lucien!«, schnauzte Monsieur Cartier und der Rothaarige griff sich seinen Rucksack und den Schreibblock, in dem er herumgekritzelt hatte.
»Von mir aus. Hatte eh keinen Bock auf diese Stunde.« Der Jugendliche stand auf und ließ, von allen unbemerkt, einen kleinen Zettel auf Mathieus Tisch fallen, bevor er sich durch den Gang auf die Tür zubewegte. »Viel Spaß wünsch’ ich euch.« Mit spöttischem Grinsen schlug der Rothaarige die Türe hinter sich zu und ließ einen schnaubenden Geografielehrer zurück, dessen Gesichtsfarbe ungesund gerötet war.
Enttäuscht darüber, dass die Aufregung nun vorbei war und man sich den langweiligen Themen zuwenden musste, sahen alle Jugendlichen zur Tafel.
Mathieu entspannte sich etwas und lehnte sich an seinen Stuhl, als ihm das Blatt Papier auffiel. Er nahm es und faltete es unter seiner Bank auseinander. Sein Herz machte einen Hüpfer und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
In Luciens unverwechselbarer, irgendwie unordentlicher, aber lesbarer Handschrift stand dort: »Nach der Stunde. Ich warte im Keller.«