Ascarna sah sich um. Die Sonne ließ ihr Fell golden glänzen. Spitze Steine bohrten sich in ihre Pfoten, aber sie war längst dagegen abgehärtet. Sie war die Tchaveskov, die Königin, ihres Volkes. In der Rechnung der Sphinxe war seit ihrer Krönung noch nicht einmal ein Jahr vergangen. Aber das Volk akzeptierte sie und bis auf vereinzelte Streitigkeiten herrschte im gesamten Land Frieden. Und doch war dieses Gefühl da, dieses Gefühl das ihr sagte, das dem nicht so bleiben würde. Frieden war vergänglich und Krieg konnte allzu leicht herbeigeführt werden. Frieden...Ascarna schnupperte. Der Duft von Steinböcken wurde ihr durch die Luft zugetragen. Sie starrte zu den Bergen hinauf, da im Schatten des Noqser Harqre sprangen die grazilen Tiere hin und her. Heute Abend würde sie ihren Clan versorgt wissen.
„Ascarna?“. Sie drehte sich um und starrte Makalar an, ihren Generalstabschef.
„Sind die Boten unterwegs?“, fragte sie leise und sah erneut zu den Steinböcken hinüber.
„Ja. Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?“.
„Der Krieg wird kommen früher oder später. Wir haben den ohnehin schon brüchigen Frieden zerstört, als das Schiff den Hafen von Yarill verließ. Und dann ist es besser, wenn wir vorbereitet sind.“.
Makalar schwieg ebenfalls. Einst war er ihr Jugendfreund gewesen, dann hatte sich ihr Verhältnis abgekühlt, als sie Keret Lisorque ihm vorgezogen hatte. Nun war ihr Generalstabschef, aber sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte, jemanden wie Makalar.
„Vielleicht hast du Recht.“, meinte er schließlich.
„Ich habe Recht.“, erwiderte die Tchaveskov.
Hinter ihnen erklangen weitere Stimmen. Ascarna wandte sich um und ihre Miene wurde weicher, als sie ihre Söhne erkannte, die sich über den Boden rollten. Kjativtk, Ntilhmb und Ertjs. Sie trugen Namen von großen Kriegern und Königen. Sphinxe, die den Frieden in ihrem Land wiederhergestellt hatten und weise regiert hatten.
„Ich will nicht, dass meine Söhne im Krieg aufwachsen, Makalar. Doch es ist ebenso falsch, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Ich werde nicht versuchen, den Frieden krampfhaft fest zu halten, wenn der Krieg sich schon hinter dem nächsten Hügel verbirgt.“.
Sie beobachtete ihre Söhne bei ihren Rangeleien. Die Boten waren verschickt, die Clans würden ihrem Befehl Gehorsam leisten und ihre Krieger sammeln. Das Volk der Sphinxe sammelte sich zum Kampf und es gab kein zurück.
Hjorgcai starrte die Krieger einen Moment an. Das Schlimme war nicht das Kämpfen, das Schlimme war es gegen Menschen zu kämpfen, die sie kannte. Und dennoch es galt nach Cesing zu kommen, es galt den Frieden in diesem Land wiederherzustellen und das brachte nun einmal Opfer. Sie nahm sich ihren Bogen und die Pfeile für kurze Distanzen. Dann rannte sie auf einen Baum zu und hangelte sich hinauf. Sie fand Halt auf einem dicken Ast. Sie sah nach unten. Die Reiter hatten einen Kreis um ihre Gefährten gebildet. Insgesamt waren es sieben. Hjorgcai spannte ihren Bogen. Auf dem Erdboden wäre sie nicht zu gebrauchen, sie war im Schwertkampf unbegabt und außerdem konnte sie hier oben die Gesichter der Männer nicht sehen. Sie legte einen Pfeil ein und versuchte ihre zitternden Hände zu beruhigen. Sie atmete durch, dann ließ sie den Pfeil von der Sehne fliegen. Ein Reiter fiel zu Boden. Die anderen Reiter sahen sich um und einer zeigte auf sie. Hatten sie etwa erwartet, dass sie nicht schießen würde? Hjorgcai zielte erneut und traf einen Mann am Arm. Nein, sie traf ihn nicht. Der Pfeil schien von der Haut abzuprallen. Felsenfaust...Sie flüsterte seinen Namen leise in den Morgen. Er hatte eine andere Gestalt als sonst angenommen.
Keine Sorge. Euch geschieht nichts, flüsterte er in ihren Gedanken, Ich kümmere mich um sie
Hjorgcai nickte. Sie konnte ihm nicht antworten, die Gedankensprache funktionierte nur einseitig. Auf einmal nahm Felsenfaust eine andere Gestalt an und zwar genau die von einem der Männer. Er rief den Männern in seiner Nähe etwas zu und diese folgten ihm zurück in den Wald. Zwei Männer blieben zurück. Der Mann, dessen Gestalt Felsenfaust angenommen hatte und ein etwas verwirrter Reiter, der sich wohl fragte, warum es seinen Anführer zweimal gab. Hjorgcai traf den Verwirrten und der andere flüchtete sich in den Wald. Sie sprang vom Baum und sah lächelnd zu den anderen. Ihnen schien es – bis auf ein paar Kratzer - gut zu gehen.
Sie sah in den Wald: „Felsenfaust?“. Sie sah sich um, wo war er nur. Hoffentlich hatten die Krieger ihm nichts getan. Dann lachte sie auf. Warum machte sie sich um ihn Sorgen? Er war ein Nalinow!
Da durchzuckte ein stechender Schmerz ihren Körper. Überrascht, fassungslos starrte sie den Pfeil an, der in ihrem Oberschenkel steckte. Blut tränkte ihre Hose und malte Muster in das Leder. Sie verfluchte sich selbst. Ein Scheinrückzug! Wieso war sie nicht auf dem Baum geblieben? Sie wollte nicht um Hilfe rufen, das war unter ihrer Würde. Sie musste das alleine schaffen. Sie warf sich zur Seite und wo sie eben noch gestanden hatte, fuhr ein Schwert durch die Luft. Es war der Mann, dessen Gestalt Felsenfaust angenommen hatte. Sie rollte sich über den Boden und spürte wie der Pfeil abbrach und die Spitze sich tiefer in ihr Bein bohrte. Trotz dem Schmerz schaffte sie es ihren Khelm zu ziehen und den nächsten Schlag zu erwidern. Der Mann sprang von seinem Pferd und sah sie lächelnd an. Nun erkannte sie auch, wer es war. Ein Mann namens Öniron, der ihren Mann neidete und gerne seinen Platz eingenommen hätte.
„Sag, weiß der Khan, dass du hier bist?“, fragte sie ihn, als er auf sie zukam.
Er betrachtete sie misstrauisch.
„Er weiß es nicht nur, er billigt es sogar. „Bringt mir den Bogen und meine Schwiegertochter.“, das waren seine Worte.“.
„Sagte er tot?“, fragte sie, als er ihr Khelm außer Reichweite gewirbelt hatte.
„Nein, aber ohnmächtig bist du leichter zu ertragen.“.
Seine Klinge raste erneut auf sie zu und sie warf sich erneut zu Boden. In Önirons Augen glühte der Hass. Ob er wohl eine heiratsfähige Tochter hatte? Dann wäre nach ihrem Tod eine neue Khatun fällig und diese sollte wohl seine Tochter sein.
Doch sie war nicht bereit zu sterben. Mit fahrigen Händen zog sie sich an einem Baumstamm hoch. Sie wollte zu ihrer Waffe laufen, aber sie knickte ein, als der Schmerz ihren Körper wie glühendes Feuer durchzog. Sie sah nicht auf ihr Bein, sie beobachtete den Mann, der bereit war, sie zu töten. Er kam auf sie zu. Die Sonne spiegelte sich in seiner Klinge und über ihr zwitscherte ein Vogel. Nicht fähig sich zu bewegen, sah sie ihn nur an. Die Sekunden vergingen träge, jetzt in diesem Moment. Zäh, wie die Haut von zu heiß gekochter Milch.
Dann verging sie wieder schnell. Nur, dass es nicht sie war, an deren Kehle sich ein Schwert legte, sondern er. Eine Gestalt war – schnell wie ein Schatten – zwischen sie und Öniron getreten.
„Geh!“, erklärte Joshua, „Und berichte deinem Khan, dass seine Schwiegertochter nicht länger seiner Familie angehört.“. Der Mann stolperte davon, die Augen vor Zorn und Wut verkniffen.
Sie rutschte den Baumstamm hinab.
„Hjorgcai!“. Er fing sie auf und legte sie auf den kühlen Waldboden. Sie spürte wie seine Finger die Pfeilwunde ertasteten, war aber zu schwach seine Hilfe zu verweigern.
„Was hast du nur getan!“, flüsterte sie, „Was hast du nur getan.“. Dann sank sie in das Dunkel des Zwielichts.
Tabita sprang auf, als Joshua zu ihnen zurückkam. Auf dem Rücken trug er Hjorgcai. Sie breitete eilig eine Decke aus.
„Was ist passiert?“, fragte sie, während sie ihrem Bruder half, die Aweynche hinzulegen.
Dann entdeckte sie die Wunde. „Oh, oh.“. Sie legte die Wunde frei und betrachtete diese.
„Die Pfeilspitze steckt noch drinnen. Sie hat Glück gehabt, für mich sieht es so aus, als ob nur der Muskel getroffen sei und keine Sehnen.“, erklärte sie schließlich. Sie griff nach ihrem Dolch.
„Ich brauche heißes Wasser.“. Konzentriert schnitt sie die Wunde weiter auf und hielt endlich triumphierend die Pfeilspitze hoch. Dann begann sie die Wunde auszuwaschen, um kurz darauf einen Druckverband zu machen.
„Mehr kann ich und will ich noch für sie tun. Jetzt muss die Wunde alleine verheilen. Sie wird die erste Zeit Schmerzen haben und nicht richtig reiten oder laufen können, aber ansonsten wird es ihr wieder so gut wie früher gehen.“.
Es dauerte dennoch lange, bis Hjorgcai wieder aufwachte. Zeit, die langsam und träge verging. Wie Krähen saßen sie um das Lagerfeuer herum, nicht wissend, was sie nun tun sollten. Darl schnitzte, Narichre hatte Landkarten vor sich ausgebreitet und studierte diese, Sjavkonhkar war jagen, Joshua schliff sein Schwert und Tabita achtete auf den Eintopf, der über dem Feuer hing. Was sollten sie auch tun, wo ihre Führerin ausfiel? Tabita stand auf. Sie sah in den Himmel hinauf, der durch graue Wolken verhangen war. Grau und trostlos, genauso kam es ihr vor. Der Wald dagegen war ganz anderes als sie es gewohnt war. Es waren überwiegend Nadelbäume, die hier wuchsen. Der Boden war im Gegensatz zu den Nadelwäldern ihrer Heimat mit viel mehr Sträuchern bewachsen. Später im Jahr würden hier bestimmt Heidelbeeren wachsen. Auch war der Wald nicht so dicht und bildete viel mehr vereinzelte Baumgruppen. Das ganze Land war anderes, als sie es kannte. Nach dem sanften Hügelland mit den Laubwäldern wie es Ciyen prägte, suchte man hier lange. Karges Steppenland mit hohen Gebirgszügen und Nadelwäldern bildeten die Landschaft Sehjoldons. Kein Wunder, dass die Aweynche Nomaden waren, der Anbau von Feldfrüchten war kaum möglich.
Tabita wandte sich vom Wald ab und setzte sich neben Narichre. Sie betrachtete die Karten und sah, dass die Hersora selbst zeichnete.
„Die Karten, die ich mitgenommen habe, sind falsch. Der Fluss Dzengin ist viel zu weit östlich und das Terchai-Gebirge...“. Die Hersora erzählte weiter und Tabita beachtete sie bald nicht mehr.
„Was schnitzt du?“, fragte sie Darl.
„Ich weiß es nicht.“, antwortete dieser, „Ich überlasse meinem Messer die Führung. Oder weißt du jeden Moment, wohin deine Füße dich im nächsten tragen?“.
„Nein, das weiß ich nicht.“, erwiderte sie, „Es sieht aus wie ein Bär, meinst du nicht?“.
Darl hielt sein Werk vor sich und betrachtete es prüfend.
„Stimmt, das könnte ein Bär werden.“. Dann schwieg er wieder und Tabita unterließ es, das Gespräch weiter zu führen. Stattdessen sah sie zu Joshua. Sie sah seiner Miene an, dass er wieder mit sich selbst haderte.
„Der Angriff war nicht deine Schuld!“.
Er sah noch nicht einmal auf. Sie fasste ihren Bruder an die Schulter und schüttelte ihn leicht.
„Hörst du mich? Es war nicht deine Schuld!“.
„Ich hätte euch beschützen können, ich hätte aufmerksamer sein sollen.“.
Er deutete auf Hjorgcai. „Es ist meine Schuld.“.
„Nein, ist es nicht.“, wiederholte sie leise. Sie lehnte sich an seine Schulter und umarmte ihn.
„Bring mich zum Lachen.“, flüsterte sie ihm leise ins Ohr.
„Was?“, überrascht sah er sie an.
„Wie lange haben wir dieses Spiel schon nicht mehr gespielt?“.
Ein Lächeln zog über sein Gesicht und vertrieb die Schatten.
Es war das Spiel, bei dem sie sich damit übertrumpfen versuchten, wer als Kind die schlimmsten Sachen angestellt hatten, wobei sie immer Geschichten der anderen Person erzählten.
„Weißt du noch, wie du die Bücher von Marvon bemalt hast, weil er dir nicht beibringen wollte, wie man schreibt?“, begann Joshua leise.
„Das hatte ich schon fast vergessen.“, murmelte sie, „Aber er ist ausgerastet!“.
„Und wie! Ich hatte damals Angst vor ihm.“.
„Danach hat er mir schreiben beigebracht.“, flüsterte sie bedächtig.
Es tat so gut, die vertrauten Geschichten wieder zu hören. Ein kleines Stück Heimat an diesen Ort zu zaubern.
Erleichterung machte sich auf den Gesichtern der anderen breit, als Hjorgcai sich aufrichtete.
„Felsenfaust?“, fragte sie.
Tabita erinnerte sich, dass dies der Name des Mannes war, mit dem sie sie in das Lager des Khans geleitet hatte.
„Er war nie hier.“, erklärte Narichre.
„Wahrscheinlich. Habe ich es mir nur eingebildet.“, erklärte die Aweynche. Ihre Augen glitten über ihre Begleiter und blieben an Joshua hängen.
Sie funkelte ihn an: „Was hast du nur getan?“. Sie stand auf und ignorierte die Proteste von Tabita. Wie selbstverständlich griff sie nach ihrem Bogen, die Jagd würde sie ablenken. Der Zorn war so viel wichtiger als der Schmerz. Sie hörte seine Schritte durch den Wald, als er ihr folgte. Er war so viel ungeschickter als sie, hatte er vergessen, wie man sich richtig bewegte? Kein Wunder, dass er es nicht vermochte zu jagen.
„Hjorgcai! Warte.“. Sie hörte ihn fluchen. Schließlich blieb sie doch stehen und wartete bis sein roter Haarschopf auf der Lichtung erschien.
„Schreie mich meinetwegen an, aber sage mir, was ich dir getan habe. Verdammt, ich habe dir das Leben gerettet!“.
„Und es mir wieder genommen! Du verstehst es nicht, oder? Ich werde nie zu dieser Gemeinschaft gehören, ich gehöre zu meinem Volk. Ich reise mit euch, weil es meinem Interesse und im Interesse meines Volkes ist, nicht, weil ihr meine Freunde seid. Du hast mir meine Familie genommen mit diesen Worten, ihm gesagt, dass ich zu euch gehöre, obwohl ich doch zu meinem Volk gehöre!“.
„Du hasst deinen Mann und deinen Schwiegervater!“, erwiderte er verletzt.
„Mag sein, dass ich sie nicht liebe, aber ich bin ihnen zur Treue verpflichtet, denn sie sind mein Volk.“.
Sie wollte sich abwenden, ihn erneut stehen lassen, aber etwas brach aus dem Unterholz. Ein Keiler! Sie betrachtete die braunen Borsten und die gewaltigen Hauer, die sich ihr drohend entgegen streckten. Im Gegensatz zu Wölfen oder Bären zögerten diese nicht, Menschen anzugreifen. Und sie hatte nur ihren Bogen, während Joshua nur einen Dolch bei sich trug. Für einen Keiler benötigte man Speere, andere Waffen verärgerten ihn nur. Und doch hatte sie eine Chance. Hjorgcai trat zurück und ignorierte den Schmerz, der aufkam, als sie ihr rechtes Bein belastete. Sie spannte ihren Bogen und zielte auf den Keiler, der auf sie und Joshua zu rannte. Sie konzentrierte sich und für einen Moment gab es nur sie, den Keiler und den Pfeil. Dann ließ sie den Pfeil von der Sehne schellen – und traf den Eber im Auge. Das halbblinde Tier stand still da und bot so ein großartiges Ziel für Hjorgcais Bogen, bis er schließlich zusammen brach.
Joshua starrte sie an.
„Was ist?“, fragte sie.
„Guter Schuss.“, entgegnete er schließlich.
Sie lächelte: „War ja auch von mir.“. Sie betrachtete den Keiler, „Ich schätze, wir haben unser Abendessen.“.
Es war anders, jetzt mit ihm zu reden. Sie hatte das Gefühl, eine Schuld beglichen zu haben. Er hatte sie in dem Kampf gerettet und sie ihn vor dem Keiler. Sie waren quitt.
„Frieden?“, fragte Joshua leise.
Sie zögerte kurz, dann ergriff sie seine ausgestreckte Hand.
„Frieden!“, stimmte sie ihm zu.
Sie schnitzen zwei Spieße, an denen sie den Keiler befestigten, um ihn in das Lager zurück zu transportieren.
„Kennst du Schagai?“, wollte sie von ihm wissen.
„Nein, was ist das?“.
„Ein Spiel meines Volkes. Ich habe eines im Lager. Wir können es spielen.“.
„Einverstanden.“.