Als Hjorgcai Khatun aus ihrer Jurte trat, hielten alle bei ihrer Arbeit inne. Sie verneigten sich, denn alle wussten, was der Bogen in ihrer Hand bedeutete. Es war kein gewöhnlicher Bogen, es war der Bogen der Khatun und des Khans, der normalerweise in ihrer Jurte ruhte. Jetzt aber hatte er seinen Platz verlassen und das bedeutete, dass Hjorgcai den Helm des Herdes gegen den des Krieges getauscht hatte. Die Khatun zog in den Krieg und ihr Lager würde ihr folgen, das war eine Frage der Ehre, gegen wen sie zogen, war nebensächlich, es war nur wichtig, dass es die Khatun war.
Hälöron trat neben Hjorgcai und nahm ihre Hand, sodass sie den Bogen gemeinsam hoch hoben. Dann schritten sie durch die Menge der Menschen, die sich vor ihnen teilte. Gemeinsam schritten sie zu ihren Pferden, um zu jagen. Würde diese Jagd erfolgreich sein, dann würden sie in den Krieg ziehen, war sie es nicht, dann würden sie es nicht tun. Und genau deshalb musste sie erfolgreich sein. Sie mussten jetzt handeln. Wenn sie nicht verhinderten, dass Hes-Argan sich mit den Heeren seiner Verbündeten zusammenschloss, konnten sie gleich aufgeben.
Am Abend kehrten sie mit zwei erlegten Saigas zurück, so dass es alle wussten. Dadurch, dass die Herden in der Nähe waren, war die Versorgung der Frauen und Kinder gewährleistet und die Männer wurden nicht als Jäger gebraucht. Hjorgcai hatte sich entschieden, nur mit den Kriegern zu reisen. Zwar wurden damit die Kinder und Frauen zurück gelassen, aber sie würden beweglicher und schneller sein. Auch waren die meisten Frauen im Umgang mit Bogen, Steinschleuder und Speer geübt und konnten sich durchaus verteidigen.
Pfeile wurden geschnitzt und über den Feuern trockneten die Frauen Fleisch, um es zu Borts zu verarbeiten. Das Wiehern der Pferde füllte die Luft, sie schnaubten und scharrten mit den Hufen, freudig, dass sie bald wieder laufen durften. Schwerter wurden prüfend geschwungen und Bogensehnen gespannt, Hjorgcai hatte ebenfalls befohlen, leichte Schilde anzufertigen, was bei ihren Generälen Kopfschütteln hervorrief.
„Wo würdest du angreifen?", fragte sie Hälöron, während sie das eifrige Treiben um sich herum betrachteten.
„Ich würde ihn nicht direkt angreifen.", entgegnete er zögernd, „Sondern erst seine Verbündeten schlagen, um eine Vereinigung der Armeen zu verhindern.".
„Richtig.", bestätigte sie ihn. „Weiter?".
„Wir müssen einen strategisch günstigen Ort finden. Die...Aratseseng-Steppen.".
„Wieso?".
„Dort ist die Hochfestung des Stammes der Aratjet, der treu hinter Hes-Argan steht.", fuhr er nun sicherer fort, „Die Steppen sind im Norden und Westen durch das Seymur-Gebirge geschützt und im Osten durch den Fluss Dajar, weshalb sie gut zu verteidigen sind. Von dort könnte man leicht die Nalidschin-Ebenen und die Arcai-Ebenen erreichen, zwei Gebiete, welche von Hes-Argan beherrscht werden.".
„Sehr gut.". Bewundernd betrachtete sie den jungen Khan, in ein paar Jahren würde er einen guten Heerführer abgeben.
„Wir halten das Gebiet um den Fluss Dzengin und die östlichen Steppen, also den Nordosten, Saruul hält die nordwestlichen Wüsten und Reyncher die Mitte des Norden. Wir halten also den Norden und Hes-Argan den Süden.
Das Problem sind seine Verbündeten. Wenn wir nach Osten ziehen, werden seine Verbündeten aus dem Südwesten unser Gebiet angreifen und unter ihre Kontrolle bringen, etwas, was nicht geschehen darf, weil wir dann keine Ressourcen haben, um ein Heer zu ernähren. Und deshalb werden wir in die Norag-Steppen ziehen.".
„Dorthin, wo du herkommst.", stellte Hälöron leise fest.
„Ja.", entgegnete Hjorgcai und ihr Herz war schwer. „Einer der Stämme dort, ist der meine.".
„Was weißt du über die südlichen Wüsten-Stämme?“.
„Sie…sie sind unabhängig von Khan und Taidschie und leben von dem Reichtum der Handelsstraßen.“, erklärte er zögernd.
„Richtig. Die südlichen Stämme sind auf ihre Unabhängigkeit bedacht und ziehen deshalb auch nicht in den Krieg. Das sie klar Partei beziehen, ist nicht gut, denn das bedeutet, dass sie sich seines Sieges sicher sind. Sie halten die Oasenstraßen nach Niyes und verdienen durch Schutzgeld ordentlich. Sie mischen sich selten in die großen Kämpfe ein, sonders schützen ihr eigenes Reich.“.
„Hast du noch Familie dort?“, fragte er leise.
„Abgesehen von den vielen Vettern und Cousins.“. Sie lachte leise auf, um die Angst unter Freude und Zuversicht zu verbergen. Eine Khatun durfte keine Angst und keine Schwäche zeigen, ansonsten kamen die Wölfe. „Eine Schwester.“. Ihre Stimme wurde leise und sie wandte den Blick von ihm ab. „Ich habe sie nicht mehr gesehen, seitdem sie fort geritten ist, um Achkber zu heiraten.“. Fühlte er ihren Schmerz, der bei jedem Wort mitschwang? Sah er ihre Schwäche?
Sie wandte sich ab, damit er ihre Tränen nicht sah und rief stattdessen mit fester Stimme: „Wir brechen auf.".
Das Gebiet, das der Khan beherrschte, war – im Vergleich zu der Größe von Sehjoldon – nicht groß, war aber aufgrund der fruchtbaren Böden, bevölkerungsreich. Hjorgcai Khatun war die Erste, die aufbrach, aber weitere Heere von Fürsten schlossen sich ihnen an. Reyncher zog ihnen mit fast all seinen Männern ihnen an und auch Saruul schickte fünf Jagun, fünf Hundertschaften. Hjorgcai gliederte ihr Heer in die Zehnerschaften, Arban, Hundertschaften, Jagun, Tausendschaften, Minghan und Zehntausendschaften, Tumen. Dennoch war ihr Heer gering im Vergleich zu dem, welches Hes-Argan besaß.
„Wir brauchen eine Waffe.", erklärte sie Hälöron eines Abends. „Eine Waffe, die unsere Gegner nicht besitzen und die unsere Schwächen wettmacht.".
Hälöron sah in den Sternenhimmel und betrachtete das Treiben im Tal unter ihnen, wo das Heer ein eilig befestigtes Lager errichtete.
„Ich weiß es nicht.". Der Junge zuckte mit den Schultern. „Katapulte?".
Hjorgcai schüttelte den Kopf. „Um diese anzufertigen, bleibt uns nicht genug Zeit.".
„Jedenfalls etwas, um sie von oben anzugreifen. Etwas, was mit Bögen nicht gut zu erreichen ist, wie Felsbrocken eines Katapults.", erklärte der Khan.
Hjorgcai sprang auf. Ihre Augen glänzten.
„Das ist es! Du hast mich auf eine fantastische Idee gebracht.".
Sie vergewisserte sich, dass Bogen und Köcher über der Schulter hingen, dann lief sie zu ihrem Pferd. Einige Soldaten starrten ihr verblüfft hinterher. Hjorgcai bremste, als sie Tselmeg, den General des Zuunghar, des rechten Flügels, erkannte.
„Tselmeg! Ich will, dass du mit drei Jagun in die Sirayan-Ebenen reitest und dort nach Vögeln suchst, die größer als ein Pferd sind. Zähme sie! So viele du kannst und so schnell es dir möglich ist.".
„Meint Ihr die Ojuncol?".
„Heißen sie so?". Die Khatun runzelte die Stirn. „Ich weiß nur, dass sie einen spitzen Schnabel haben, kräftig und angriffslustig sind und dass ich nicht erneut gegen sie kämpfen möchte.".
„Ihr habt gegen die Ojuncol gekämpft und überlebt? Gegen die Dämonen der Steppe?". Sie las Bewunderung in dem Blick von Tselmeg, einem General, den sie bisher für unerreichbar gehalten hatte.
„Ja.", entgegnete sie knapp, „Und deshalb weiß ich, dass wir sie für unser Heer verdammt gut gebrauchen können!".
„Einverstanden, Herrin. Ihr habt Recht, ich werde mich darum kümmern.". Tselmeg nickte ihr zu, neigte leicht den Kopf und verschwand dann. Zufrieden sah sie ihm hinterher. Er war ein guter General, der selbstständig Entscheidungen treffen konnte, aber dennoch treu hinter der Khatun und dem Khan stand. Durch Narben war er für alle Zeiten gekennzeichnet und da er die rechte Hand verloren hatte, hielt er das Schwert nun mit der Linken. In seinem Zopf zeigten sich die ersten Strähnen von grau und seine dunklen Augen blickten wachsam und aufmerksam um sich. Er war einer von Saruuls Hauptmännern gewesen, bis Hjorgcai ihn zum General des Zuunghar befördert hatte. Damit hatte er eine der drei wichtigsten Stellungen inne, die neben ihm noch den General der Armee des Khol, des Zentrums, der Hjorgcai war, und den General des Baruughar, des rechten Flügels, der Saruul war. Hjorgcai war zufrieden mit ihren Generälen, denn von diesen würde in mitten einer Schlacht erwartet werden, selbständige Entscheidungen zu treffen und die Gesamtziele zu verwirklichen wie von jedem anderen Unterführer. Die aweynchischen Heere lebten von ihrer Beweglichkeit.
Es vergingen Tage, in denen sie nichts mehr von Tselmeg und seinen Dreihundert Männern hörten. Hjorgcai nutzte die Zeit, ihr Heer besser auszurüsten und mit ihren Beratern Pläne zu schmieden. Sie schickte Boten an weitere Stämme, um sie als Verbündete zu gewinnen oder sie davon zu überzeugen, sich neutral zu verhalten. In diesen Tagen, als Schwerterklirren und das Sirren der Bogensehnen die Luft erfüllten, klangen immer mehr Nachrichten zu ihr, Nachrichten, die sie verwirrten. Mal sollte Hes-Argan sich in den Nalidschin-Ebenen sammeln, dann sollte er sich in den Lingial-Steppen befinden. Es war ein Spiel von Zügen, die sie nicht sah. Wo war er?
Nach sechs Tagen brach sie das Lager ab und das Heer marschierte weiter in Richtung Süden. Sie tauschten die sanften Wiesen des Nordens gegen die kargen und felsigen Steppen des Südens. Gräser und einige Flechten boten Nahrung für Saigas und Wildpferde, die in großen Herden über das Land zogen. Mehrmals gab Hjorgcai den Befehl, die Pferde einzufangen und notdürftig zu zähmen. Später würden sie sie brauchen.
Vereinzelt tauchten Wasserflächen auf, an denen die Tiere Wasser fanden. Ein kalter Wind fegte über die Steppen und brachte einen kalten und stetigen Nieselregen mit sich, der den Boden unter ihren Füßen tränkte.
Doch Hjorgcai genoss den Wind, denn sie war ihn gewöhnt. Hier war ihre Heimat, hier in diesen Steppen war sie aufgewachsen und eben diese Steppen kannte sie in und auswendig. Sie dachte nach, wo würde sie eine Armee von Reitern verstecken? Wo konnte man sich in dieser offenen Landschaft verbergen? Wo waren die Heere von Hes-Argans Verbündeten? Ihr Blick wanderte über die Steppen und blieben schließlich an dem Lyndimur-Gebirge hängen, dass sich am Horizont als eine Kette von Schatten aufrichtete. Das Gebirge war mit seinen Flüssen und saftigen Wiesen sicherlich nicht das schlechteste Versteck. Allerdings war es untypisch für einen Aweynche - wenn er sich nicht auf eine Falle vorbereitete.
Hjorgcai lächelte. Jetzt wusste sie, wo Töretchin sich mit ihrem Stamm verbarg und wo die Übrigen drei Stämme warteten.
„Oh, ja. Ihr verkriecht Euch in den Bergen, Fürsten der Steppen.", flüsterte sie leise und der Wind trug ihre Worte davon und vielleicht würden sie auch die Fürsten hören.
Hjorgcai Khatun stand von ihrem Beobachtungsposten auf und schritt zu der Jurte, in der sich die Berater versammelt hatten. Schwungvoll trat sie ein und nickte den Anwesenden zu. Die Jurte war einfach eingerichtet. Ein Feuer in der Mitte verbreitete Wärme und einige Teppiche und Kissen machten den Boden bequemer. Hjorgcai setzte sich zu den anderen um das Feuer und betrachtete die Generäle nachdenklich, die darauf warteten, dass sie die Beratung eröffnete. Die Khatun verscheuchte eine Dienerin, die das Feuer schüren wollte und wies die Wachen an, dass sie nicht gestört werden wollten.
„Sie verstecken sich im Lyndimur-Gebirge und hoffen, dass wir unser Heer teilen, damit sie uns einzeln schlagen können.", erklärte sie sofort, „Sie überleben, weil der Milazil die Weiden tränkt und die Südberge zu einem fruchtbaren Ort werden lässt.".
„Und was sollen wir dann tun? Wir können sie in den Bergen nicht verfolgen, können sie aber auch nicht daran hindern, im Gebirge zu bleiben, es sei denn, es gibt einen überraschenden Wintereinbruch.".
„Winter ist gut, General Bahadur, aber noch fern. Wenn ich richtig vermute, befinden sich die Heere in einem Tal, in dem ein Nebenfluss den Milazil fließt.".
„Wisst Ihr es oder vermutet Ihr es?", entgegnete Saruul stirnrunzelnd.
„Ich kenne Stammesfürst Töretchin und wenn er sich in den letzten Monaten sich nicht komplett neu gewandelt hat, dann stimmt meine Vermutung.".
„Also nehmen wir ihnen das Wasser.", meinte ein General.
„Nein.". Hjorgcai lächelte. „Wir geben es ihnen. Wir fluten das Tal, in dem wir den gesamten Milazil in das Tal leiten. Dann brauchen wir sie nur noch erwarten und mit unseren Bögen zu erledigen.".
„Richtig, Herrin. Aber dies ist nur ein Stamm, wo sind die Übrigen drei?".
„Sie erwarten uns im Süden der Norag-Steppen.", entgegnete Hjorgcai, „Und wollen uns mit dem versteckten Stamm im Lyndimur-Gebirge überwältigen.".
Im Gegensatz zu anderen Völkern nutzten die Aweynche keine Karten und orientierten sich stattdessen an Sternen und Sonne. Es würde von jedem Offizier erwartet, dass er an jedem Moment seines Lebens sagen konnte, wo er sich befand.
"Das bedeutet, dass wir unsere Streitmacht teilen, ein Teil wird sich um die Überflutung und die anschließende Verfolgung kümmern und der Rest-", sie lächelte grimmig, "Wird sich um die drei Stämme am Rand der Steppen kümmern. Bahadur ich übertrage Euch die Aufgabe Töretchin zu besiegen, du bekommst zwei Minghan zugestanden und ich werde den Rest des Heeres in die Norag-Steppen führen.“. Hjorgcai stand auf und starrte ihre Generäle an, als wollte sie ihnen befehlen, ja nichts gegen ihren Plan einzuwenden.
Bahadur nickte und die anderen Generäle zeigten keinen Missfallen. Sie setzten sich schon mit der Schlachtaufstellung und den Positionen der Männer auseinander. Hjorgcai beachtete die leisen Stimmen kaum. Sie stand auf und lief aus der Jurte. Ein kühler Wind wirbelte ihre Haare hoch und brachte sie zum Lächeln.
„Khatun.“. Sie sah auf und erkannte einen Diener, der auf sie zu rannte. „Hälöron Khan hat das Lager mit zwei Arban verlassen.“.
Hjorgcai nahm die Nachricht mit einem Nicken an. Sie hatte es nicht anders erwartet, zwanzig Reiter waren nicht viel, aber genug, um durch die Linien des Feindes zu entkommen. Vielleicht würde Kherosgo den Worten des Khans mehr Beachtung schenken, ihren vertraute ihre Schwester schon lange nicht mehr.
Hjorgcai betrachtete nachdenklich die Hügelkette, die vor ihnen lag. Hinter ihnen befand sich ein Heer mit gespannten Bögen und schnaubenden Pferden, die nur darauf warteten, zu laufen. Sie sah ihre eigenen Männer an. Grimmige Entschlossenheit zierte ihre Gesichter, aber auf keinen von ihnen würde sie Angst finden. Ein Aweynche zeigte keine Angst und keine Schwäche, ansonsten würde er zur Beute werden, obwohl er Jäger war.
Auch Hjorgcai spürte ihr Herz vor Angst erbeben, aber nach Außen hin zeigte sie sich entschlossen und sicher. Sie trug einen schwarzen Lederharnisch und einen den Nacken bedeckenden Helm. Über ihrem Rücken hingen zwei Bögen , ebenfalls besaß sie zwei Köcher mit Pfeilen. An der Hüfte hing das leicht gekrümmte Schwert, das Khelm und in der Hand hielt sie eine Lanze mit Haken, die dafür geeignet war, gegnerische Reiter aus dem Sattel zu heben. Ab Sattel hing noch eine Keule und ein Strick aus Pferdehaar mit einer Schlinge. Neben ihr ritt der Standartenreiter, der ihre Befehle mit Hilfe von Flaggen weitergeben würde. Weitere Kurierreiter waren in der Nähe und sie selbst war umgeben von ihrer Leibwache, die darauf achten würden, dass die Khatun nicht in Gefahr geriet.
Hjorgcai nickte dem Standartenträger zu, der das Zeichen zum Angriff gab, indem er die Flagge der Khatun erhob. Langsam, ruhig setzte sich das Heer in Bewegung. Kein Laut drang über die Steppe, es waren nur die Pferde, die schnaubten, ansonsten war es still.
Hjorgcai selbst ritt in der Mitte und diese blieb zurück, während sich die Seiten, jede geformt wie ein Pfeil, an die Front begaben. So konnte die Khatun die einzelnen Truppenteile gut überblicken und sie miteinander koordinieren.
Sie überquerten die Hügelkette und vor ihnen erstreckte sich das Heer der Stammesfürsten, das sich ebenfalls im Trab auf sie zu bewegte.
„Die nicht berittenen Bogenschützen besetzen die Hügelkette.“, meinte sie zu dem Standartenträger, der einige Fahnen in die Luft hob und damit ein Zeichen gab.
Das gegnerische Heer setzte sich in Galopp, doch Hjorgcai sah ihre Zeit noch nicht gekommen.
„Jetzt. Pfeile.“, befahl sie, als das Heer eine Stelle erreichte, an der Hjorgcai im Dunkel der Nacht Krähenfüße und Fallgruben vorbereiten hatte lassen.
Als die ersten Pferde stürzten, sirrten die Bogensehnen und Pfeile bohrten sich in die vorderen Tiere. Die nachfolgenden Reihen ritten zwar weiter, auch wenn sie dadurch ihre eigenen Kameraden nieder ritten, doch es brach trotzdem ein Durcheinander aus. Als ein Truppenführer in eine entstandene Lücke stürzen wollte, pfiff sie ihn zurück. Sie mussten das Heer zusammenhalten, es durfte sich nicht teilen und zerstreuen.
„Saruul soll zwei Jagun nach Osten schicken, damit sie das Heer umgehen und ihnen in die Flanke fallen.“, befahl sie dem Standartenträger.
Neben ihr brach ein Mann von einem Pfeil getroffen zusammen. Pferde wieherten schrill und das feindliche Heer formierte sich erneut und setzte sich wieder in Bewegung. Zurück blieb eine Ebene von schreienden Pferden, die ihre Reiter unter sich zerquetscht hatten.
„Jetzt.“, befahl sie.
Der Standartenträger hielt die Flagge der Khatun hoch und dann setzten sich Tausende von Reitern in Bewegung.
Die Pferdehufe trommelten über den Boden und erneut erklang der uralte Gesang, der die Aweynche ausmachte und sie formte, der Gesang der Pferde, mit denen sie so eng verknüpft waren. Staub wirbelte hoch und über ihnen erhob sich ein strahlend blauer Himmel.
Dann prallten die beiden Heere gegeneinander. Die Bögen der vorderen Reiter wurden durch Schwerter und Speere ersetzt. Metall kreischte und Speere brachen splitternd auseinander. Die Front war nur noch ein Gewühl von Pferdeleibern und Schwertern. Flaggen und Trommelsignale wurden gegeben, während die einzelnen Truppenführer versuchten ihre Truppen zu sammeln und zu formatieren. Hjorgcais Leibgarde wehrte jeden Angriff ab und kein Feind kam durch den dichten Wall aus Schilden, der sie umgab. Selbst sie verlor langsam den Überblick, auf diesem Schlachtfeld, über dem der Geruch des Todes hing. Überall war dieser Geruch, er hing an den sterbenden Männern und Pferden, den Schwertern, die mit Blut getränkt waren und er versickerte im Boden, mit all dem Schweiß und Blut.
„Jetzt sollen Saruuls Jagun angreifen.“, rief sie über den Lärm hinweg. Die Befehle wurden übermittelt.
Hjorgcai sah über das Schlachtfeld. Überall schwebten die Flaggen der einzelnen Befehlshaber im Wind. Über ihr selbst leuchtete das Wappen der Khatun: Ein goldener Bogen, durch den ein silberner Hirsch sprang. In der Ferne erkannte sie das Wappen der Allianz der Stammesfürsten, das einen mit Speer bewaffneten Reiter darstellte, der von einer Feuerwand umgeben war. In diesem Moment schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Erneut blickte sie zu der feindlichen Flagge hinüber. Sie wandte sich zu ihrer Leibwache. „Sifal, Muhkhbat, Tolgahan, Tulga. Ihr kommt mit mir.“. Ohne Widerworte zu beachten, trieb sie ihre Stute an und preschte durch die Reihen ihrer Leibwache mitten in das Getümmel. Mit ihrem Speer wehrte sie einen feindlichen Reiter ab und zog ihn aus dem Sattel. Ihre vier Leibwächter waren bei ihr und schützten sie so gut es ging, auch wenn sie häufiger in den Geschmack einen Kampfes kam. Sie hielt sich nicht mit unnötigen Kämpfen auf, sondern schlug mit ihrem Khelm eine Bresche in die Reihen der Reiter. Wie einer von den Vögeln wirbelte sie herum, wenn es notwendig war. Wehrte Waffen ab und fand die winzigsten Spalten in den Harnischen, die ihre Besitzer nicht vor ihrer Klinge hatten schützen können.
Es kamen ihr nur wie wenige Minuten vor, als sie das Heer durchquert hatten. Sie hatte zwei ihrer Leibwachen verloren und ihr Harnisch hatte sich vor Blut dunkel verfärbt. Sie beachtete es nicht, sondern stürmte auf die Männer zu, die die Fahne bewachten. Sie befanden sich zwar hinter dem Heer, hatten sich aber nicht auf einer Anhöhe verschanzt wie Hjorgcai es getan hatte. Auch schienen die Fürsten nicht bei der Fahne zu sein, etwas, was sich einerseits als Vorteil erweisen konnte, weil dem Feind somit die genaue Position des Befehlshabers unbekannt war, allerdings konnte es auch für die eigenen Truppen zur tödlichen Falle werden, da diese dann nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten. Hjorgcai hätte lieber das Risiko eines Angriffes in Kauf genommen, als eine in Unordnung geratende Armee. Unordnung war für jede Armee der Tod, nur strikte Disziplin und feste Formationen konnten Halt für einen Soldaten geben.
Hjorgcai zog ihren Bogen und legte einen Pfeil ein. Sie zog die Sehne mit dem Daumen zu ihrem Ohr und ließ dann los. Ein sirrendes, tödliches Geschoss bohrte sich in die Brust von einem der Wächter. Seine Gefährten wandten sich um und suchten den Angreifer, entdeckten sie und ihre beiden Leibwächter. Ob sie sie erkannten? Hjorgcai bezweifelte es. Sie trug eine einfache und zweckmäßige Rüstung und nichts, das ihren Stand offen zeigte. Nein. Das Einzige, was die neun Wächter interessierte, war der Tod, der sie über herein brach. Fast hätte Hjorgcai über die Unfähigkeit des Generals gelacht, ein Arban war längst nicht genug, um eine Fahne zu schützen, die anzeigen sollte, wo dieser General war und Zierde und Würde der Armee war.
Hjorgcai bemerkte das Blut immer noch nicht. Sie sah nur den Stolz in den Gesichtern von Sifal und Tolhagan, als sie ihre Khatun mit der Fahne des Gegners dastehen sahen. Der Rückweg war wesentlich leichter, da das feindliche Heer sie für ihren General hielt und sie dementsprechend nicht angriff, sondern ihr folgte – in die Todesfalle, die Hjorgcai vorbereitet hatte.
Ihr eigenes Heer zog sich wie in heilloser Flucht zurück und verschwand hinter der Hügelkette. Hjorgcai brüllte den Siegesschrei und verfolgte das Heer. Ihr Pferd stürmte die Hügel hinauf. Erdklumpen und Staub bedeckten Tier und Reiter. Im Schutze der Hügelkette hatte sich ihr Heer versammelt, die Bogensehnen gespannt und die Speere vor sich haltend. Das feindliche Heer kam über den Hügel, aber statt des erwarteten versprengten Heeres fand sie eine Wand von Speeren und Schilden vor sich. Die ersten Reihen der Reiter liefen mit voller Wucht in die Reihen der Speere. Pferde schrieen vor Schmerz, wenn ihnen die Brust aufgerissen wurden. Dennoch trieben ihre Reiter sie unbarmherzig weiter, aber es gelang ihnen nicht, den Wald aus Speeren zu durchbrechen. Einige Reiter hatten sich formiert und sendeten Pfeile auf Hjorgcais Heer, aber sie waren zu wenige, um gegen die gewaltigen Wellen von Pfeilen anzukommen, die Hjorgcais eigenen Reiter abschickten. Blut floss und tränkte den Boden rot. Es war ein Abschlachten, kein Kampf.
„Majestät?“. Ein Bote ritt zu ihr. „Aus dem Süden kommt ein weiteres Heer.“.
„Welche Wappen?“.
„Ein Reiter, der einen Löwen mit einem Speer durchbohrt und der goldene Reiter des Khans.“.
„Meine Schwester.“. Hjorgcai nickte. „Sie scheint also doch zur Vernunft gekommen sein. Meldet dem Khan, dass ein Sieg errungen wurde.“.
Sie blickte auf das Heer, das sich gegen die Wälle aus Schilden abmühte, die sie von allen Seiten umgaben.
„Ergebt euch und ihr werdet mit Ehren in mein Heer aufgenommen werden, tut es nicht und ihr sterbt.“, rief sie mit lauter und klarer Stimme.
Einige warfen ihre Waffen fort, andere kämpften weiter. Doch nach und nach lagen die Waffen in Schmutz und Blut, anstatt sich gegen die Sieger zu erheben.
Hjorgcai lächelte, weil sie wusste, dass ihre Männer es von ihr erwarteten. Sie klopfte ihren Generälen und Soldaten auf die Schultern, besuchte die Verwundeten und betrachtete die besiegten Soldaten.
Es mochte ein Sieg sein, aber es war nur eine Schlacht, eine winzige und kein Feldzug, der gewonnen war.
sich+dem+Ende+