Die Frau, die sich als Nian vorgestellt hatte, schwieg viel, während der Junge Xeron schon bald vor Schattenklinge im Sattel saß und sich mit diesem lebhaft unterhielt. Tabita war sich nicht sicher, was sie von dieser halten sollte, die ihnen – ohne sie überhaupt zu kennen – angeboten hatte, sie zu begleiten. Sie war sich sicher, dass Nian eine Kriegerin war und das sie deswegen auch die Generalstabschefin sein konnte, aber warum sie ihnen half, war ihr schleierhaft. Sie hatte sich noch nicht einmal näher erkundigt, von woher sie kamen und was sie von der Kaiserin wollten und selbst ihre Namen schienen die Sebetjh nicht zu interessieren.
„Möchtest du nicht auch reiten?“, fragte Tabita Sjavkonhkar, der als Mensch neben ihnen her lief, da er – aufgrund der vielen Menschen – seine Löwengestalt nicht nutzen konnte.
„Ich komme doch gut mit euch mit.“, entgegnete dieser spöttisch.
Da musste sie ihm auch wieder zustimmen. Der Sphinx hielt ohne Mühe mit den Pferden mit und trug dabei noch sein Gepäck. Wenn Nian dies verwunderte, so bemerkte sie auch dazu nichts. Sie schwieg einfach. Tabita zuckte nur die Schultern über diese merkwürdige Frau und unterhielt sich lieber mit Narichre. Die Hersora erzählte alles Mögliche über die Geschichte der Sebetjh, die Pflanzen, die hier wuchsen, über ihre Heimat.
Die Landschaft blieb gleichförmig. Tagelang ritten sie zwischen Bauerndörfern, Reisfeldern und kleinen Wäldern hindurch. In den letzten Tagen hatte es geregnet, so dass der Schlamm bald Pferde und Reiter bedeckte und die Nachtlager ungemütlich werden ließ. Die Müdigkeit kroch allen in die Knochen und ließ die Gespräche verebben.
Nach einigen Tagen erreichten sie das Meer. Schroffe Klippen erhoben sich über den tosenden Wellen, die gegen die Felsen krachten. Tabita hielt ihr Pferd an und ließ sich vom Wind durchpusten. So weit das Auge reichte erstreckten sich Wellen und irgendwo dahinten lag ihre Heimat...
„Irgendwo dort ist die Niamey.“, erklärte sie leise zu der Hersora. Diese schien die Hoffnung in ihren Augen zu lesen.
Sie schüttelte den Kopf. „Sieh dir die Felsen an, hier kann kein Schiff anlanden.“. Tabita seufzte. So nah und doch so fern. Sie wollte fort, dieses Land verlassen und zurück zu ihrer Familie und doch wollte sie diese Abenteuer nicht wieder vergessen. Joshua ritt neben sie und umarmte sie.
„Ich weiß.“, flüsterte er leise.
Sie seufzte.
Dann wandte sie sich um und sah zurück zu dem Land, das sich vor ihnen erstreckte. Sahres. Dies war ihr Weg, aber nicht ihre Heimat, eines Tages würde sie zurückkehren.
Sie blieben in der Nähe des Meeres und folgten ihrem Pfad. Auch hier erstreckten sich Bauerndörfer, aber diese schienen das Meer zu meiden und erstreckten sich erst viele Pferdelängen weiter, als ob die Sebetjh das Meer mieden. Nian schien es nicht viel auszumachen, auch wenn Xeron Angst zu haben schien. Tabita hatte Gefallen an dem Jungen gefunden, der ein freudiges und aufmerksames Kind war. Er erinnerte sie an Saries, die Tochter von Nichos und Teres, nur das er nicht so gelehrt war, aber ebenso aufmerksam und aufnahmefreudig für die Welt.
Nach zwei weiteren Tagen tauchte am Horizont eine Stadt auf.
„Cesing.“, erklärte Nian leise.
Tabita grinste. Sie hatten es geschafft.
„Sie tut was?“. Kayra sah von ihren Briefen auf und sah Josia an.
„Ascarna zieht ihr Heer zusammen.“, wiederholte dieser, „Sie ist überzeugt, dass es zum Krieg kommen wird und bereitet sich vor.“.
„Was denkst du?“, fragte die Königin der Elben.
„Ich denke.“, entgegnete ihr Mann leise, „Dass sie Recht hat. Wir haben in einen Konflikt eingegriffen, den wir nicht kennen und nicht verstehen.“.
„Und Joshua und Tabita sind da draußen.“. Sie stütze den Kopf auf die Hände und sprang kurz darauf wieder auf. Kayra schob die Vorhänge zur Seite und sah nach draußen. Sie murmelte leise vor sich hin.
„Meinst du das das Parlament einem Krieg zustimmst?“.
Josia lachte leise auf. „Was für eine Begründung haben wir denn? Eine Ahnung, dass die Entsendung von Botschaftern falsch war? Nein werden sie nicht, denn es gibt keine sichtbare, momentane Bedrohung und wir können nichts vorlegen, das eine Bedrohung bestätigen würde. Wir müssen abwarten.“.
„Ich werde doch nicht abwarten!“. Kayra griff nach ihrem Schwert Arinyé Ciréya, „Wenn ich das Heer wenigstens nicht sammeln kann, dann werde ich selbst die wehrfähigen Männer in Tyral Rorym trainieren und Wettkämpfe veranstalten. Oder gibt es aus rechtlicher Sicht etwas gegen Übungskämpfe ein zu wenden?“.
Josia hielt sie zurück. „Und wenn es doch noch eine friedliche Lösung gibt und Ascarna sich irrt?“.
„Es mag sein, dass Frieden möglich ist, doch genauso kann ein Krieg möglich sein. Ich werde mich darauf vorbereiten, beide Wege beschreiten zu können.“. Sie hielt inne. „Und sage das nicht Ascarna, ansonsten haben wir auch einen Krieg mit den Sphinxen.“. Dieses Mal lächelte sie kurz, dann stürmte sie davon, ihr Schwert erhoben.
Staunend starrte Tabita die Stadt an, die sich vor ihnen erhob. Cesing erhob sich in den Ebenen von Leving zwischen dem Meer und dem Fluss Fai. Hunderte von Menschen strömten auf die Stadt zu oder von ihr weg. Händler und Bauern marschierten auf den Wegen und Soldatenzüge ritten aus der Stadt.
„Dies ist das Herz meines Volkes.“, erklärte Nian leise. Überrascht sah Tabita die Frau an. Es war das erste Mal, das sie über etwas sprach, das nicht das Nötigste betraf.
„Hier werden die Kaiserinnen gekrönt und weltbewegende Entscheidungen getroffen. Hier ist das Handelstor den Süden und Westens. Aus dieser Stadt entstand das Kaiserreich Sahres.“.
„Wer ist die Kaiserin? Wie ist sie? Wie regiert sie?“, fragte Sjavkonhkar.
„Du wirst sie kennen lernen.", wich die Generalstabschefin aus.
„Xeron, komm auf mein Pferd.“, wandte sie sich an ihren Sohn. Schattenklinge ließ den Jungen absteigen und er setze sich mit Hilfe seiner Mutter vor sie in den Sattel.
Sie hatten die Stadttore erreicht. Über ihnen ragten mächtige, hölzerne Tore auf, die in breite und hohe Steinmauern errichtet waren. Nian nickte den Wachen zu und diese ließen sie ohne Kommentare hindurch ziehen,
„Willkommen in Cesing.", erklärte Schattenklinge.
„Wir haben es geschafft! Wir haben unseren Auftrag erfüllt und sind nach Cesing gelangt, in die Stadt der Kaiserin.", wandte Tabita sich mit einem Strahlen im Gesicht an die anderen.
„Fast. Wir müssen noch in die Hallen der Kaiserin und ihr...den...das Geschenk übergeben.". Auch Joshua lächelte.
„Und dann können wir wieder nach Hause.". Sehnsüchtig dachte Tabita an ihre Eltern und ihren Bruder, an Tyral Rorym. Gleichzeitig fragte sie sich, wie sie jemals in ein geordnetes und normales Leben zurückkehren sollte, wo sie diese Abenteuer erlebt hatte und eine neue Welt erkundet hatte. Sollte sie dies einfach vergessen? Noch war es nicht die Zeit darüber nachzudenken, jetzt waren sie in Cesing.
Cesing. Die Stadt war riesig, zehnfach so groß wie Tyral Rorym oder Marsina. Dabei war ihr schon Marsina immer so groß erschienen. Die befestigten Straßen waren breit und boten genug Platz für die Menschenmaßen, die durch die Stadt zogen. Die Häuser zeugten mit ihrer Größe von der Beständigkeit und Herrlichkeit dieser Stadt. Statuen und Brunnen schmückten die öffentlichen Plätze, aus Tavernen drang der Geruch von Essen und Wein und überall wurden Kleinigkeiten angeboten. Kinder rannten durch die Masse und Tabita sah mehr als einmal wie ein Gelbbeutel vom Gürtel seines Besitzers verschwand oder ein Apfel von den Tischen der Händler. Soldaten patrouillierten durch die Stadt und ab und zu schnappten sie sich ein Kind, das zu offensichtlich gehandelt hatte. Marktweiber schrieen, Hunde kläfften und Pferde wieherten. Auf der ganzen Stadt lag ein gewaltiger Geräuschpegel.
Umso näher sie dem Zentrum kamen, umso größer und prächtiger wurden die Häuser. Es waren mehr Seitenflügel angebaut und die Dächer waren mit noch mehr Verzierungen geschmückt. Langsam stiegen die Wege an.
„Die Stadt ist um einen Hügel gebaut, auf dem der Palast steht.“, bestätigte Nian ihre Worte. Sie stütze ihren Sohn, der sich müde und erschöpft an sie lehnte und die Wunder um ihn herum nicht fassen zu scheinen können. Sanft strich Nian ihrem Sohn eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht und Tabita sah die Liebe in ihren Augen. Sie wandte sich zu Hjorgcai um. Die Hand der Aweynche lag an ihrem Schwertgriff und ihr Gesicht drückte Misstrauen aus und doch empfand auch sie Bewunderung für die Stadt der Sebetjh.
Wie Sternenstrahlen führten die Wege auf den Palast zu und der Palast war beeindruckend, eine Stadt für sich. Hölzerne, rote Mauern trennten den Palast von der Stadt und die Wachen hielten ihre Waffen stolz in die Luft und streckten ihre Brust mit dem Wappen der Kaiserin hervor: Ein roter Drache, der in seiner rechten Pranke eine goldene Kugel hielt. Auch die Wachen des Palastes ließen sie widerstandslos passieren, als sie Nian sahen.
„Sage Acheving, dass ich wieder da bin.“, befahl sie einer der Wachen.
„Wer ist Acheving?“, fragte Narichre.
„Der Sohn der Kaiserin.“, erwiderte Nian kurz angebunden.
Tabita sah sich um. Der Platz zwischen Toren und dem eigentlichen Palast bestand aus ordentlich geharkten Kieswegen und Grünflächen, auf denen die herrlichsten Blumen wuchsen. Hjorgcai stieg als erste ab, ließ ihren Bogen und ihr Schwert aber dennoch nicht los.
„Hier riecht es nur nach Intrigen und Verrat.“, meinte sie an Tabita gewandt, „Ich bin froh, wenn wir die Stadt wieder hinter uns lassen. Hast du...“. Tabita tastete nach der Decke, in die der Bogen eingewickelt war. Sie spürte das Holz durch die Stofffasern hindurch.
Sie nickte. Dieses Mal würde nichts dazwischen kommen und dann würde sie endlich wieder nach Hause können...
Sie atmete die Luft ein, die so anders als in Ciyen schmeckte. Ein Mann kam die Treppen des Palastes herunter gelaufen und ging auf Nian zu.
„Willkommen zurück.“, meinte er leise. „Wer sind deine Begleiter.“. Er musterte sie, niemand von ihnen hatte sein Gesicht länger verhüllt. Wie seltsam, dass braune Haar von Sjavkonhkar und Narichre, das rote Haar von Joshua auf ihn wirken musste, in einem Land, wo jeder dunkles Haar besaß. Dazu kam noch die helle Gesichtsfarbe, die alle bis auf Sjavkonhkar und Hjorgcai besaßen und die so anders war als die von dem Volk der Sebetjh.
„Wir sind aus Anthar, Acheving der Sebetjh. Gesandte von den Elben, den Sphinxen und den Hersorn, sowie Hjorgcai von den Aweynche.“, erklärte Narichre in der Sprache der Sebetjh.
„Gesandtschaft auf Anthar. Ich nehme an, dass ihr es ward, die die Wälle von Teyon überwunden haben und gegen mich gekämpft haben?“.
Er betrachtete sie, als wollte er sich von ihrer Schuldigkeit noch mal überzeugen.
„Du hast gegen mich gekämpft und wer ist der Sphinx?“. Er deutete auf Joshua und sah sich dann suchend um.
„Ich war das.“. Sjavkonhkar trat vor.
„Es war nicht sehr höflich von dir mich nieder zu schlagen.“.
„Hätte ich euch vorwarnen sollen?“, entgegnete der Sphinx spöttisch.
„Wir haben euch etwas zu überbringen, etwas was einst euch gehörte.“, mischte Tabita sich ein und betrachtete ihn bedeutungsschwer. Sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, nicht neben den Wachen und den Dienern, die hin und her liefen.
„Wir besprechen es bei der Kaiserin.“, erklärte Acheving, der erkannt zu haben schien, was sie meinte.
„Acheving, ich...“. Nian deutete auf ihren Sohn, der sich an sie lehnte und die Augen geschlossen hatte, nachdem er den Prinzen begrüßt hatte. „Ich würde Xeron gerne in einem Gasthaus in der Stadt unterbringen, dann komme ich.“.
Acheving nickte.
„Dann bis nachher.“.
Nian winkte noch einmal, setzte ihren Sohn zurück auf ihr Pferd und ritt dann davon.
„Ich fürchte, ihr werdet eure Waffen ablegen müssen.“, erklärte Acheving.
„Ich werde nicht ohne Waffen die Halle einer Sebetjh betreten.“, protestierte Hjorgcai sofort und Tabita erkannte, dass sie sich nicht erweichen lassen würde.
„Und wir lassen Hjorgcai nicht alleine zurück.“, schloss Joshua sich dem an.
„Also gut.“, Acheving nickte. „Folgt mir.“.
Der Prinz führte sie durch die Hallen und Gänge des Palastes. Schließlich blieb er vor einem gewaltigen Tor stehen.
„Dies sind die Hallen der Kaiserin. Ich rate euch, dass ihr euch benehmt und lasst mich sprechen.“, warnte er sie vor.
Dann stieß er die Torflügel auf und sie traten in eine Halle, neben der alle Thronsäle in Anthar winzig wirkten. Die Kaiserin saß wie entfernt von ihnen auf einem Thron.
Acheving warf sich auf den Boden und bedeutete ihnen, es ihm gleich zu tun. Mit deutlichem Widerwillen ließ sich zuletzt auch Hjorgcai auf ihre Knie fallen.
„Ihr dürft aufstehen.“, erklang die Stimme einer Frau.
„Dies sind Gesandte aus Anthar, meine Kaiserin.“, erklärte Acheving.
„Es ist ihnen erlaubt, zu sprechen.“. Tabita sah zu den Anderen, dann trat sie vor.
„Ich bin Erendi von Ciyen, dies ist mein Bruder Joshua, wir sind Gesandte unserer Eltern Königin Kayra und König Josia. Das ist Sjavkonhkar von Ikara, Gesandter von Königin Ascarna, seiner Schwester. Dies ist Narichre von Varyny, Gesandter von König Nichos und Königin Teres. Dies ist Darl Schattenklinge, ebenfalls Gesandter unserer Eltern. Und dies ist Hjorgcai von den Aweynche.“.
Sie hielt inne und sah die anderen an.
„Wir sind gekommen, um euch den Bogen zu bringen, der rechtmäßig euch gehört und Wahrzeichen eures Volkes ist, um Frieden zu schaffen zwischen den Euren und den unseren.“.
Tabita spürte die Spannung, die in der Luft lag. Alles schien geladen zu sein und nur auf sie zu achten und das was sie in der Hand hielt. Tabita nahm die Decke fort - und erschrak. Denn dies war nicht der Bogen, den sie in den Hallen der Zwerge gefunden hatten, dies war ein ganz gewöhnlicher Bogen, der nichts mit dem anderen, prachtvollen zu tun hatte.