Noch zwei Wochen nach der Schlacht von Faszon und der darauf folgenden bedingungslosen Kapitulation der Sebetjh verwesten auf dem Schlachtfeld die Leichen. Der Schnee verdeckte die Gesichter, doch den Gestank vermochte er nicht zu übertünchen.
„Wenigstens ist nicht Sommer. Du möchtest nicht wissen wie der Feldzug in den Naolak-Wüsten vor zweiunddreißig Jahren aussah.“, meinte Naichie leise und legte Acheving eine Hand auf die Schulter.
In dichte Mäntel gehüllt standen sie dar. Über ihnen erhob sich die kalte und ferne Wintersonne und eine dünne Schneeschicht legte sich auf ihre Mäntel. Im respektvollen Abstand standen zwei Elben und beobachteten sie. Im Gegensatz zu den beiden Sebetjh waren sie nur leicht bekleidet.
Ein Husten erschütterte Naichie und er stöhnte auf.
„Ich hasse gebrochene Rippen.“, knurrte er.
„Du solltest wieder zurück ins Warme.“, meinte Acheving und bemühte sich den sorgenden Unterton zu verbergen, den Naichie so verabscheute.
„Es ist egal.“, murmelte dieser und schob mit den gefütterten Handschuhen den Schnee von seinem Mantel. „Ich sterbe, Acheving. Die elbischen Heiler geben mir noch ein halbes Jahr. Ich sag’s nicht gern.“. Er röchelte erneut. „Doch ich fürchte der Angriff war zu viel für mich.“. Er atmete pfeifend ein und richtete sich auf. „Ich werde alt. Doch ich hätte noch Jahre gekämpft. Jahre.“.
„Ich weiß.“, beruhigte Acheving ihn.
Er trat gegen einen Stein. „Dieser verfluchte Winter.“. Der Stein rollte davon und zu seinem Erschrecken bemerkte Acheving, dass es ein Schädel gewesen war, von dem noch Hautfetzen hingen.
Er schloss die Augen. Das hatten diese Männer nicht verdient, tapfer zu sterben und dann kein Begräbnis zu erhalten. Normale Tote wurden in mit Kräutern gefüllte Tücher gelegt und dann in die Erde gelassen, während Adelige und höhere Beamten eigene Grabtempel erhielten. Doch der Winter war zu schnell und zu heftig hereingebrochen, um alle Toten zu bergen. So würden diese hier erst im Frühjahr Ruhe finden.
Ebenfalls verhinderte der Schnee, dass die Heere anderswo Unterkunft fanden. Die Heere der Hersor und Zwerge hatten diesen Ort nie erreicht , sondern hatten anderswo Zuflucht gefunden. Nur einzelne Delegationen waren eingetroffen und verhandelten jetzt mit Elben, Sphinxen und Jorohnen über die Zukunft der Sebetjh. Die Hauptstreitmacht der Jorohne war bei den Schiffen geblieben und die Sphinxen hatten sich weiter in den Süden gekämpft, doch weder die Elben noch Sebetjh konnten fort. Dicht an dicht standen die Zelte zwischen Schneematsch und mit wenig Versorgungsmöglichkeiten. Schon häufig war Streit ausgebrochen und es war ein Wunder, dass die Situation vergleichsweise ruhig war. Dennoch war Typhus ausgebrochen und gestern waren die ersten Opfer der Ruhr entdeckt worden. Es brannten viele Leichenhaufen in den letzten Tagen.
Acheving sah zu Naichie. Er mochte den General und hatte ihm längst verziehen, denn dieser hatte das Beste für sein Volk gewollt. Dennoch war ihm in jedem Augenblick bewusst, dass das Bündnis schon bald zerbrechen würde und er sich über den General erheben musste. Verrat durfte und konnte nicht ungestraft bleiben, selbst bei Naichie nicht.
„Da kommt jemand.“. Naichie nickte mit dem Kopf nach Westen. Acheving kniff die Augen zusammen und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis er einen Punkt als Reiter identifizierte. Dieser redete auf ihre Bewacher ein und deutete dabei auf sie.
„Ich schätzte, es ist so weit.“, murmelte Acheving. Einen Moment stand er unschlüssig da, dann umarmte er Naichie. Dieser stöhnte auf und Acheving wich wieder zurück.
„Schon gut.“, keuchte der alte Krieger, während er sich die Seite hielt. „Es sind nur die Rippen.“.
„Nur?“. Acheving runzelte die Stirn. Es war ein Wunder, dass Naichie überlebt hatte. Als Acheving ihn besinnungslos am Ufer des Flusses entdeckt hatte, hatte er ihn schon aufgegeben. Doch zäh wie er war, hatte Naichie den gebrochenen Arm und die Rippen, all die Prellungen und Hautabschürfungen, die Zerrungen, sowie die Bauchwunde überlebt. Dennoch war er nicht der Alte, das Handgelenk war so zersplittert gewesen, dass die Hand hatte amputiert werden müssen. Zum Glück waren die elbischen Heiler deutlich besser als die seines Volkes, es änderte nur nichts daran, dass Naichie nie wieder ein Schwert schwingen würde. Die Bauchwunde war deutlich komplexer gewesen und nun hatten die Heiler erklärt, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Organe versagten.
„Ich habe vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten.“, brummte der Veteran ihm ins Ohr, dann klopfte er ihm auf die Schulter. „Du schaffst das.“.
Acheving atmete tief durch, dann nickte er. Er würde es schaffen.
„Gut. Dann lasst uns einen Frieden unterzeichnen.“.
Ein letztes Mal klopfte Naichie ihm auf die Schulter, dann humpelte er voran.
Acheving starrte den Vertrag an, der vor ihm auf dem dunklen Tisch lag. Das Holz trennte die Versammelten in Gewinner und Verlierer. Acheving blickte zu Naichie, Xeron und Sielied, die an seiner Seite saßen. Naichie erwiderte seinen Blick und Acheving zog Ruhe aus den Augen des alten Veteranen. Auch Xeron wirkte äußerlich ruhig, doch Acheving hörte die Gedanken neben sich rattern und er sah die Lustlosigkeit in seinen Augen. Sielied wirkte entspannt, er würde neben Acheving wahrscheinlich am Ungestraftesten davon kam.
Es war ein Pavillon, der sich auf einem Hügel über der Stadt Yarill befand. Am Hügel wuchsen Weinberge, deren rote Pracht leuchtete. Jetzt waren die Bauern verschwunden, um Platz für die Soldaten zu machen, die hier patrouillierten. Mehrere Soldaten standen hinter ihnen und bemerkten jede noch so kleine Bewegung.
Es war deutlich wer die Sieger und wer die Besiegten waren.
Die Personen auf der anderen Seite schwiegen. Königin Kayra, König Josia, Arlèn und Joshua von den Elben, der hersorische König Nichos saß dort, seine Frau Teres, die mit ihrem dicken Bauch am menschlichsten wirkte. Generell schienen die Hersor am Umgänglichsten sein und Joshua lächelte ihm ebenfalls zu. Er war froh, ihn hier sitzen zu sehen. Etwas Vertrautes an dem er festhalten konnte, während sie über die Zukunft seines Volkes bestimmten. Die Sphinxe waren ihm unheimlich, ihre Königin mit den schweren, goldenen Augen, in denen dunkle und wilde Flammen wüteten. Die grimmige Entschlossenheit und die ungebändigte Kraft, die sie in jeder Bewegung ausstrahlte.
Noch schlimmer waren die Jorohne, die Hass und Zorn ausstrahlten und so aussahen, als ob sie die Verhandlungspartner am liebsten gleich dem Henker übergeben hätten. Doch wer konnte es ihnen vergelten? Sein Volk hatte ihre Königin ermordet.
Acheving seufzte und versenkte seine Augen in dem Vertrag, ohne ein Wort aufzunehmen. Dann bemerkte er Naichies Blick, der ihm Trost und Mut verhieß. Er konzentrierte sich auf den Vertrag, der über die Zukunft seines Volkes entschied und den er nur noch zu unterschreiben hatte.
Als erstes waren die Leute aufgelistet, die als Verhandlungspartner galten und Acheving fand seinen eigenen Namen darunter.
Er las weiter über das Abziehen der Truppen, die Stellung von zweihundert adeligen Geiseln, unter ihnen Sielied, von denen jedes Jahr zehn zurückgegeben werden würden. Weiterhin die Übergabe der restlichen Flotte an die Jorohne, sowie den Wiederherstellung der Schiffe, die während der Seeschlacht zerstört worden waren. Acheving schluckte. Dies würde Unmengen kosten und zum anderen die Jorohne zu einer unschlagbaren Seemacht machen. Dann kamen die Summen, die zu bezahlen waren. Zehntausend Drachen...Das war ein unbezahlbares Vermögen, dass die Wirtschaft unmöglich tragen konnte. Jetzt war er froh, dass er die Währung nicht wie seine Mutter es gewollt hatte mit billigen Metallen vermischt hatte, das würde die Gefahr einer Inflation verringern. Die jährlichen Sendungen von Kohle und Stahl waren fast noch schlimmer. Damit war für Anthar die Gefahr eines starken Heeres der Sebetjh vorerst gebannt, ohne Kohle und Stahl konnte man keine Waffen fertigen und dementsprechend auch kein Heer aufbauen. Und die Völker Anthars dafür umso mehr.
Der Krieg hatte Anthar nicht geschwächt, wie Nian es gewollt hatte, es wurde immer mehr gestärkt und wuchs zu einer gewaltigen Militärmacht heran, bezahlt mit der Arbeit seines Volkes. Nian hatte ihre Ziele zu hoch gesteckt, war tief gefallen und hatte ein ganzes Volk mit sich an den Rande des Abgrundes getrieben. Acheving zweifelte nicht daran, dass Nians Ziele gut gewesen waren und dass sie nur das Beste für ihr Volk gewollt hatte, doch sie war zu schnell vorgeprescht und hatte versucht das Land gewaltsam zu einen. Die Adeligen waren zersplitterter denn je auch wenn einige Acheving bereits ihre Unterstützung zugesichert hatten. Die Zeit würde die Wunden heilen und vielleicht würde sein Land eines Tages tatsächlich eins werden.
Er las weiter und stieß auf den Artikel, den er wie keinen anderen gefürchtet hatte und der dennoch so unvermeidbar gewesen war:
Zur Begleichung der Blutschuld müssen Prinz Xeron, Naichie Kariong Su, sowie der Leichnam von Kaiserin Touargchie übergeben werden.
Seine Gefühle mischten sich zu einem gewaltigen Sturm. Er wusste nicht, was er denken und empfinden sollte. Zum einen trauerte er um Naichie und Xeron, die ohne Zweifel gute Menschen gewesen waren und Naichie hatte dieses Ende sicherlich nicht gewollt, sonders alles für ihr Volk getan, während Xeron für das bezahlen würde, was seine Mutter angerichtet hatte.
Zugleich freute er sich, dass es nicht sein Name war, dessen Buchstaben das Papier schmückten.
Und dann empfand er noch die tiefe Erleichterung, dass nicht er den Richtspruch über Naichie sprechen müsste, der immerhin ein Verräter war und dass es ein anderer war, der sich den Zorn seines Volkes auflud, da Naichie immerhin als Held des einfachen Soldaten galt. Und Xeron, Xeron wäre immer eine Gefahr für seine Herrschaft gewesen und es war einfach notwendig, dass er starb und damit ein neues Reich in Frieden und Wohlstand unter Acheving ermöglichte.
Beide hätten sterben müssen und somit tat ihm Anthar eher einen Gefallen, als dass es ihm schadete.
Dennoch schämte er sich für diese Gedanken, denn es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Naichie einen Freund genannt. Ein Diener lebt und stirbt mit seinem Herrn, wie es ein Sprichwort zu Recht verkündete und Söhne bezahlen die Fehler und tragen das Glück ihrer Eltern
Acheving sah auf und blickte zu Naichie. Er war sicher, dass der General gewusst hatte, was dort stand und dass er es längst akzeptiert hatte.
Zögernd nahm Acheving die Feder entgegen und unterschrieb mit seinem Namen. Dann nahm er den Siegelring, tauchte ihn in flüssigen Wachs und der Drache erschien auf dem Papier.
Dann folgten Xeron und Naichie und für einen Momemt führten Drache, Tiger und Leopard einen ebenbürtigen Tanz auf, als hätte es den Krieg zwischen ihnen nie gegeben und als wollten sie vergessen, dass sich hinter Tiger und Leopard die Armbrustbolzen kreuzten und die Taube mit ihren Schwingen die Sonne verdeckte, als wüssten sie nicht, dass der Drache sich erneut mit Stärke und Macht erhob, während Tiger und Leopard für immer verschwinden würden. Doch es war nur ein Moment, der Gleichklang verschwand und die Töne wirbelten wieder wild durcheinander.
Acheving schloss kurz die Augen, dann ließ er die Feder fallen und lockerte seine verspannte Hand. Es war getan. Jetzt galt es, sein Volk diesen Vertrag überleben zu lassen.
„Er wacht auf.“, flüsterte jemand Ascarna ins Ohr und sie richtete sich prompt auf. Der Diener verneigte sich und zog sich zurück.
Sie hatte lange genug in dieser Beratung geschmort, oh wie sie das hasste. All das Gerede und es gab noch nicht einmal etwas zu trinken. Auch Sphinxe berieten sich, denn immerhin hatte der Rat der Stammesfürsten die Macht über Krieg und Frieden zu entscheiden Doch bei den Sphinxen wurde am ersten Tag der Beratung getrunken, damit gewährleistet war, dass alle die Wahrheit sagten und keiner die Möglichkeit hatte mit Hintergedanken zu handeln. Am zweiten Tag, wenn alle ausgenüchtert waren, wurden die Entscheidungen getroffen.
Doch das hier…
Sie stand auf, unterbrach für einen Moment die hitzige Diskussion und erklärte: „Mein Bruder wacht auf.“. Dann verließ sie das Zelt mit eiligen Schritten und rannte mehr als das sie ging zu den Zelten der Heiler. Hier herrschte reger Betrieb. Verwundete wurden hinein getragen und die Toten verließen ihn auf der Rückseite auf Karren um wenig später einen Platz auf den Feuern zu finden. Amputierte Gliedmaßen lagen herum und hier war der Schneematsch rot.
Die Löwin in ihr erwachte, roch das Blut und forderte Fleisch, doch sie unterdrückte den Drang.
Es war rutschig auf dem von vielen Füßen zertretenen Schnee, aber wenigstens sackte man hier nicht knietief ein. Sie schob den schweren Zeltstoff beiseite und trat ein. Kohlepfannen verbreiteten so viel Wärme, dass Ascarna begann zu schwitzen. Lampen erhellten das Zelt, in dem nur Sjavkonhkar lag. Ebenfalls waren es Sphinxe, die auf ihn achteten und keine Elben. Wenn man Ascarna fragte, hatten die Elben überhaupt in zu vielen Angelegenheiten ihre Finger.
Sie trat zum Bett ihres Bruders, tatsächlich er hatte begonnen zu atmen. Seine Brust senkte und hob sich regelmäßig, bald würde er aufwachen. Und obwohl er schlief, war es ein gutes Gefühl den letzten, der ihr aus der Familie geblieben war, bei sich zu wissen. Es war eine Erleichterung gewesen, als die Jorohne ihn mit sich gebracht hatten.
Dann schlug er die Augen auf. Erleichtert lachte sie auf. Sie war nicht mehr so glücklich gewesen, seitdem sie ihren Sohn Ertjs wieder in die Arme geschlossen hatte, der die Gefangenschaft durch die Sebetjh tatsächlich überlebt hatte.
„Sjavkonhkar! Du lebst!“, rief sie.
Er runzelte die Stirn.
„Das habe ich auch mitbekommen, Schwester. Was ist geschehen?“. Er versuchte sich aufzurichten, legte sich jedoch sofort wieder zurück. Sie reichte ihm eine Schale mit Wasser und er trank gierig.
„Wir haben gewonnen, Bruder. Vier Schlachten wurden nach der Seeschlacht geschlagen. Wir wurden von ihnen bezwungen, während Arlèn ihrerseits die Sebetjh besiegt hat. Sie wurde daraufhin erneut zur Schlacht gezwungen, doch als ihre Linien anfingen zu brechen, ist unser Heer dazu kommen und hat sie gerettet. Während dessen haben die Jorohne die Flotte der Sebetjh in eine Falle gelockt und vernichtet. Und jetzt sind wir hier, heute wurde der Friedensvertrag unterzeichnet. Es ist vorbei, Sjavkonhkar.“.
Er lächelte erleichtert, doch dann huschte die Sorge zurück.
„Was ist mit Tabita? Hat sie dir etwas übergeben?“.
„Sie ist tot, Sjavkonhkar. Sie fiel im Kampf gegen Schattenklinge, besiegte ihn dennoch, aber wir haben uns nicht gesprochen, seitdem sie aus Tyral Rorym aufgebrochen ist.“.
„Bist du dir sicher? Sie hat dir nichts schicken lassen, keine Botschaft überbracht?“.
Doch sie schüttelte nur den Kopf.
Entsetzt sah er sie an.
„Was ist mit ihren Hinterlassenschaften?“.
„Ihre Leiche wurde nach Tyral Rorym gebracht und ihren Besitz werden ihre Eltern haben oder er wird aufgeteilt worden sein.“.
„Dann ist es verloren.“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu ihr, „Ich bin gescheitert, bevor die Aufgabe überhaupt begonnen hat.“.
„Wieso? Was sollte sie mir denn geben?“, fragte sie. Doch Sjavkonhkar schwieg und starrte nachdenklich vor sich hin. Sie wiederholte ihre Frage, doch ihr Bruder schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Und egal wie oft sie fragte, er schwieg und es wirkte so, als ob eine gewaltige Last ihn bedrückte.
Nach drei Mondläufen war der Schnee so weit getaut, dass die Lager abgebrochen werden konnten. Endlose Menschenreihen schleppten sich die Straßen entlang, an deren Wegesränder, diejenigen im letzten Schnee lagen, die zu schwach und verletzt waren. Es gab kein Heer der Sebetjh mehr, es gab nur noch einen Haufen schwacher und kranker Männer. Typhus und Ruhr hatten ihr Opfer ebenso gefordert wie Hunger und Kälte. Selbst die Jorohne hatten zugegeben, dass es ein ungewöhnlich harter Winter gewesen war, ein früher Wintereinbruch und ein frühes Ende. Doch jetzt wehten die ersten Westwinde wieder und würden sie in die Heimat zurücktragen. Im Frühjahr die Westwinde, die launischen Winde der Sommer, auf die sich niemand gerne verließ und im Herbst waren Ostwinde normal, wenn man von den heftigen Stürmen absah, die das Meer gerne heimsuchten. Nun dürfte die Überfahrt aber einigermaßen sicher sein und darüber war Acheving froh, wo er doch schon die Demütigung ertragen hatte, den Jorohnen Schiffe abzukaufen, obwohl er wusste, dass er sie ihnen sowieso wieder abgeben musste.
Acheving zügelte den schwarzen Hengst, den Joshua ihm geschenkt hatte und sah sich um. Ein endloser Marsch. Elben standen an den Wegesrändern und kontrollierten, dass alles in rechter Ordnung verlief.
Es war wärmer geworden in den letzten Tagen und so schien auch jetzt die Sonne warm auf sie herab und vertrieb die Kälte aus denen vom Winter müde gewordenen Glieder. Drei Monate des Todes und der Angst. Er war froh, dass sie beendet waren.
Laute Rufe lenkten ihn von seinen Gedanken ab. Er ließ den Hengst vorwärts preschen und grinste, als er die Ursache der Rufe erkannte. Vor ihnen brachen sich die Wellen an den Klippen und in der Bucht trieb die Flotte, die sie zurück geleiten sollten. Die Menschen seufzten erleichtert, als sie bemerkten, dass der Marsch geschafft war. Kleine Beiboote brachten sie zu den Schiffen und nach einem Tag waren sie hinüber.
Acheving stand neben Naichie, dieses Mal unterließ er die Umarmung, denn er wusste, dass sein Volk sie beobachtete.
„Es ist so weit.“, meinte Naichie. „Ich bin froh, die Gelegenheit gehabt zu haben, an deiner Seite zu kämpfen. Ich hätte es gerne wiederholt, denn du bist ein würdiger Freund und Kaiser.“.
„Ob sie einen Kaiser billigen?“.
„Es wäre nicht das erste Mal.“. Naichie sah auf das Meer.
Acheving schnaubte. „Liu überlebte ganze drei Tage als Kaiser, bevor seine Schwester den Thron für sich forderte und Yuen hat das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt, um den größten Teil seines Lebens in der Verbannung zu verbringen. Warum sollten sie ausgerechnet mich akzeptieren?“.
„Weil sie keine andere Wahl haben.“, entgegnete Naichie schlicht und sah Acheving an. „Wenn sie nicht einen erneuten Bürgerkrieg riskieren wollen, in dem sich die Adeligen gegenseitig um den Thron streiten, müssen sie einen Kandidaten mit genug Erfahrung und Macht wählen. Über mich und Xeron, Nians Erbe, wurde ein Todesurteil gesprochen. Nians Heer wurde besiegt, es gibt also keine erfolgreichen Generäle. Ihr seid derjenige mit dem meisten Anspruch auf die Kaiserkrone und sie sind bereit euch zu akzeptieren.“.
„Das Volk ist wankelmütig wie eine Frau.“, meinte Acheving zweifelnd.
Naichie blickte von dem Anblick der Männer auf, die sich auf sie zu bewegten und sah erneut zum Meer und zu den Schiffen.
„Das ist der Punkt, nicht wahr? Die Wahrheit ist, dass das Volk Frieden will. Gib ihnen Frieden und sie werden dir bis ans Ende der Welt folgen.“.
„Frieden. Das ist tatsächlich ein wünschenswerter Ansatz.“.
„Das ist er.“, stimmte Naichie ihm zu, „Ich habe fünfzig Jahre meines Lebens im Krieg verbracht und weiß Frieden wahrlich zu schätzen.“. Verborgen, ohne dass jemand es sah, drückte er kurz Achevings Hand. „Ich bin mir sicher, dass du ein guter Kaiser wirst, der Beste, den Sahres je gesehen hat und du wirst unserem Land den Frieden schenken, den es und ich nie gehabt haben.“.
Dann ging er und stieg den Pfad die Klippen hinunter, gefolgt von zwei jorohnischen Wachen und er ging den Weg zu seiner Hinrichtung.
Ein Wagen rollte an ihm vorbei und vier Männer trugen eine Barre herbei, auf der ein in Tücher gewickelter Leichnam lag. Es war Nian. Sie war über die Wintermonate im Boden vergraben worden und durch die eisigen Temperaturen war der Körper erhalten geblieben. Jetzt war sie ausgegraben worden, um mit Naichie und Xeron ihr Grab zu finden. Die Jorohne wollten ihre Rache und da Schattenklinge ihnen zuvor gekommen war, mussten sie wenigstens Rache an ihrem Leichnam ausüben.
Acheving sah den Körper seiner Feindin und Freundin verschwinden und am Strand wieder auftauchen, wo sie in ein Boot gelegt wurde.
„Auf ein Wort?“.
Acheving fuhr herum und erkannte Nians Sohn Xeron. Wie alt war er? Zehn? Elf? Nun musste er für die Fehler seiner Mutter bezahlen.
Xeron trug ein einfaches, dunkles Gewand mit langen Ärmeln, das als einzige Verzierung die Stickerei eines goldenen Tigers auf der Brust besaß. Er war noch ein Kind und durfte den Haarknoten nicht tragen, weshalb seine Haare kurz geschnitten waren.
„Meine Mutter war eine gute Frau und wollte das Beste.“, stellte er fest und dies mit einem Selbstbewusstsein, dass Acheving erstaunte.
„Ich weiß.“, entgegnete er sanft.
„Ich glaube, dass sie es am Ende bereut hat.“, meinte Xeron, „In der Nacht hat sie häufiger von einer falschen Entscheidung, dem falschen Weg und einem falschen Krieg gesprochen, sie hat es immer unterdrückt und wollte diese Gedanken selbst nicht wahrnehmen, doch in ihrem tiefsten Inneren hat sie es immer gewusst.“.
„Ja.“.
„Sie hat Euch geschätzt und gemocht.“, fuhr Xeron fort, „Und zu Hause hat sie von Euch geschwärmt und ich glaube, dass sie Euch geliebt hat, aber ihr Stolz stand ihr im Weg.“.
Acheving starrte Xeron an. Hätte es einen anderen Weg gegeben? Eine Zukunft für sie beide? Doch stattdessen hatten sie auf verschiedenen Seiten gestanden.
„Und ich bin mir sicher, dass du es besser machen wirst als sie und dass weder Stolz noch Zorn noch Angst dir im Weg stehen werden. Du bist ein würdiger Nachfolger von ihr.“.
Acheving war gerührt und jetzt tat es ihm leid, dass er Xeron nur so wenig kannte. Er hatte ihn nur einmal gesehen, vor dem Palast, als Nian den Bogen gestohlen hatte und sie verraten hatte und seitdem hatte er Xeron immer nur als ihren Sohn angesehen und vergessen, dass er eine eigene Person war. Und tatsächlich wäre er ein gefährlicher Gegner gewesen, so wie er redete, besaß er die gleiche Gabe wie Nian, die Menschen mit Worten auf seine Seite zu ziehen und ohne Zweifel wäre er ein guter Kaiser geworden. Doch es war Acheving und nicht Xeron dessen Weg der Kaiserthron war, vor Xeron stand der Tod.
Acheving hockte sich nieder und stellte sich mit dem Jungen auf eine Stufe. In diesem Moment wurde ihm bewusst wie sehr er sich verändert hatte. Der andere Mann, der Prinz, hätte sich niemals auf Augenhöhe mit einem Verlierer begeben, sondern auf ihn gespuckt. In sofern hatte Nians Rebellion etwas Gutes gehabt.
Er betrachtete Xeron, der Nians unverkennbare Gesichtszüge trug.
„Sie wäre stolz auf dich und sie war es immer. Du warst ihr Leben.“.
Dann neigte Acheving den Kopf, er der Ranghöhere und Ältere zeigte einem Jungen Ehrerbietung und Hochachtung und zollte ihm Respekt. Dann neigte Xeron seinerseits den Kopf, schenkte ihm einen letzten Blick und schritt dann ebenfalls den Klippenpfad hinab.
„Es sind gute Männer.“, meinte Joshua. Er stieg von seiner Schimmelstute ab und stellte sich neben Acheving. Joshua hatte sichtlich gelitten und er verbarg nicht, dass er in letzter Zeit viele Tränen vergossen hatte.
„Ja, das sind sie.“, stimmte Acheving seinem Freund zu. „Das mit deiner Schwester tut mir leid.“, sagte er zum wiederholten Mal.
„Ja.“. Joshua sah in die Ferne. „Irgendwie denke ich immer noch, dass sie jeden Moment um die Ecke gelaufen kommt und begeistert etwas von Biochemischen Prozessen faselt. Ich verstehe nicht wie ich damals so genervt sein konnte, jetzt würde ich alles geben, um ihre Stimme noch einmal zu hören. Jede Nacht träume ich von ihr und stelle beim Aufwachen fest, dass sie tot ist und nie wieder kommen wird.“.
Acheving legte den Arm um Joshuas Schulter und gegenseitig spendeten sie sich Trost, während sie beobachteten wie die Hinrichtung vorbereitet wurde. Drei Boote wurden bereit gemacht und schließlich schoben sie sich auf die See.
„Tod durch Ertrinken. Manchmal sind mir die Jorohne unverständlich.“, murmelte Joshua.
Was Xeron und Naichie wohl dachten, während sie festgebunden in ihren Booten lagen und auf den Tod warteten?
Pfeile senkten sich über die Boote, so gezielt, dass sie die Personen nicht trafen, aber das Bot durchlöcherten.
Joshua nickte zu den Bogenschützen.
„Es sind hervorragende Pfeile. Sie sind teuer, durchdringen aber jede Rüstung, allerdings fliegen sie nicht so weit, da sie recht schwer sind. Die Jorohne verraten aber nicht, welches Metall sie für die Spitze nutzen.“.
Acheving war froh, dass Joshua versuchte ihn abzulenken, während die Boote allmählich sanken. Dann waren von dem Prinzen, dem Oberbefehlshaber und der Kaiserin nichts mehr zu sehen, sie waren für immer untergegangen. Naichie und Xeron waren Nians ins Grab gefolgt und es war ein nasses Grab geworden.
„Die Jorohne glauben, dass sie jetzt auf ewig verpflichtet sind, Arzaya in ihrem Königreich auf dem Meeresgrund zu dienen, um somit die Schuld ihres Volkes zu begleichen.“.
Acheving nickte nur stumm. Es war ein deprimierender Gedanke, dass Naichie jetzt für immer verschwunden war. Der General war so zäh gewesen, auf ihn hatte sich Acheving immer verlassen können und er war eine unbezahlbare Stütze gewesen.
„Es ist ein unehrenhafter Tod!“, erklärte er schließlich, „Naichie war ein Krieger und Xeron ein Prinz es wäre ihr Recht gewesen, durch das Schwert zu sterben.“.
„Ich weiß. Das wäre auch meine Wahl gewesen und es geht schneller. Doch dies war das Recht der Jorohne und es war richtig es ihnen zu geben. Ein weitere Krieg wäre ein Gemetzel gewesen.“.
„Du hast Recht.“, seufzte Acheving, „Dennoch fühlt es sich schlimm an.“.
„Ich weiß, doch wir können es nicht ändern und müssen in die Zukunft sehen.“.
„In die Zukunft sehen, das hört sich gut an.“, empfand Acheving.
Joshua klopfte ihm auf die Schulter. „Und jetzt müssen wir noch eine Sache erledigen, bevor ihr abreist.“.
Sie fanden sich über dem Meer auf einem steinernen Wachturm wieder, der als einsamer Posten die Gegend überwachte. Joshua und seine Eltern, Arlèn, Acheving, Königin Ascarna, ihr Bruder Sjavkonhkar, der Acheving mit dem Versprechen begrüßte, ihn nicht niederzuschlagen, die Hersora Narichre, das Königspaar der Hersor, Nichos und Teres, der König der Zwerge Lû und Queron, sowie der neue König der Jorohne, der ehemalige Marktgraf von Dura.
Sie alle standen um einen kleinen Tisch versammelt, auf dem der Bogen mitsamt dem Köcher lag.
„Dieser Bogen ist zu mächtig. Kein Gegenstand sollte die Macht haben, ein Volk zu lenken und als Machtinstrument missbraucht werden können.“, erklärte Königin Kayra. „Was sagt Ihr dazu, Acheving. Es ist Euer Symbol, ich habe nicht das Recht, Euch in dieser Sache etwas vorzuschreiben.“.
„Ich stimme Euch zu, Majestät. Der Bogen muss vernichtet werden. Es darf nie wieder so weit kommen. Wie wollt Ihr ihn zerstören? Kein Dolch vermag es einen Kratzer in das Holz zu ritzen.“.
„Das ist richtig.“, erklärte Teres mit ihrer melodischen Stimme. „Dieser Bogen wurde durch einen dunklen Zauber unzerstörbar gemacht.“.
Dann tat Joshua etwas Ungewöhnliches: Er begann zu singen.
„Hört die Blätter rascheln,
sie erzählen sich,
von einem mächtigen König,
der diese Welt regiert.
Einem König der Liebe und Gnade,
vor dem seine Feinde erzittern.
Seht die Söhne und Töchter,
die vor seinem Thron stehen,
in Macht und Herrlichkeit.
Und lauscht auf das Lied der Liebe,
das jede Sprache spricht
und das jeder in seinem Herzen,
zu sprechen vermag.
Erinnert euch an dieses Lied,
das Lied, das seinen Namen preist
Das Lied der Liebe“
Zuerst bemerkte Acheving nichts, doch dann geschah etwas. Es war wie ein sanfter Windhauch, der sich zwischen ihnen materialisierte und den Duft von Frühling mit sich brachte. Dann stand dort ein Mann, der zugleich unmöglich ein Mensch sein konnte. Alles an ihm wirkte leuchtender, herrlicher und sein Gesicht strahle so hell, dass Acheving es nicht vermochte, ihn anzusehen. Er war ein, der König. In der Hand hielt er einen gewaltigen Beidhänder, den Acheving nicht hätte heben können. Es wirkte so, als ob Feuerzungen den Stahl umgeben würden oder es war Feuer. Das Schwert fuhr nieder, durchdrang den Bogen mühelos und das Dunkle, wie finsterer Nebel, das dem Bogen entwich, verschwand, ebenso wie Bogen und Köcher. Für einen Moment erschien es ihm so, als würde der König ihm zuzwinkern, doch dann war er fort, doch der Geruch dieser königlichen Macht und Würde blieb. Und jetzt verstand Acheving auch die Worte, die Joshua über den Hüter an ihn gerichtet hatte. Mit diesem König an seiner Seite war nichts unmöglich. Und jetzt, er lächelte, würde er den Frieden in seine Heimat tragen und nichts würde die Macht haben, ihn davon abzuhalten. Sein Land und sein Volk würde Frieden finden und diesen niemals verlieren, denn nun kannte
er die Wahrheit.
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