1. Dezember
Das verlassene Gebäude ist eigentümlich friedlich. Ich trabe durch die Gänge und laufe die Treppenstufen in dem widerhallenden Treppenhaus hinab. Irgendwo her pfeift ein eisiger Wind und bläst mir die Haare aus der Stirn. Obwohl niemand mehr hier sein sollte, halte ich mich im Schatten und husche von Deckung zu Deckung.
Einmal bin ich zurück geblieben und dachte, ich wäre alleine, doch der Gärtner, Herr Ebel, hat mich entdeckt. Ich wurde am Ohr zu Frau Jäger geschleift und musste zwei Wochen in dem dunklen Raum im Keller wohnen, wo wir zur Strafe eingesperrt werden. Trotzdem hatte ich damals entdeckt, wie wertvoll diese einsamen Stunden sind.
Wir gehen einmal in der Woche auf eine Wanderung, die Frau Jäger optimistischerweise „Ausflug“ nennt. Jeden Sonntag müssen wir drei Stunden Waldspaziergang auf uns nehmen, bei jedem Wetter, Regen, Sturm, Hagel. Ein einziges Mal wurde der Ausflug abgesagt und einen Tag nach hinten verschoben, denn es tobte ein solcher Sturm, dass Bäume entwurzelt wurden und der Wald am nächsten Tag einem Schlachtfeld glich.
Diese Waldspaziergänge hatte ich geliebt, als überall gesplitterte Bäume, herabgefallene Äste und manchmal sogar erschlagene Tiere lagen. Es schien mir, als sei das Ende über die Welt gekommen. Es war aufregend, sich vorzustellen, dass wir die einzigen Überlebenden einer verheerenden Apokalypse wären. Dann wiederum fand ich es ungerecht, dass von allen fiesen, alten Frauen dieser Welt ausgerechnet Frau Jäger überlebt haben sollte.
Nach einigen Monaten kamen Arbeiter und die Sturmschäden wurden beseitigt. Es stellt immer noch einen Höhepunkt meines Lebens dar, dass mit einem Mal so viele Fremde mit uns im Waisenhaus wohnen mussten, doch die Arbeiter verschwanden wieder und die Ausflüge wurden öde. Also sorgte ich dafür, dass ich nicht mitging. Ich stahl mich davon, täuschte tagelang Krankheiten vor, log und trickste und versteckte mich. Wenn Frau Jäger mich beim Lügen erwischte, saß ich im Kerker. Auch das ersparte mir oft einen Spaziergang. Wenn ich nicht erwischt wurde, war es ein Sieg auf doppelter Linie.
Denn diese wenigen Stunden der Einsamkeit sind wahre Freiheit, diese einzigen Stunden, da ich nicht von anderen Kindern umgeben bin.
Jetzt habe ich den Speisesaal erreicht. Der lange Tisch ist leer, alle Lampen aus. Ich schleiche durch die Schatten und gehe zielstrebig zur Küchentür. Auch die Küche ist dunkel. Die Kacheln sind grau, stellenweise schwarz, wo Generationen von Köchen mit dem Ofen und mit Wasserdampf gearbeitet haben. Ich öffne verschiedene Schränke lautlos wie ein Schatten und schnuppere wie ein Tier. Ob sich hier etwas Essbares findet?
Aber scheinbar sind alle Schränke leer. Nur in einem großen Topf brodelt der Eintopf für heute Abend vor sich hin. Mein Magen knurrt, also öffne ich die Besteckschublade, um mir einen Löffel zu holen.
Doch zwischen den Messern liegt noch etwas anderes, so fremdartig und wundervoll, dass ich meinen Hunger vergesse.
Kerzen.
Eine große Packung schneeweißer Kerzen und ein Feuerzeug sind in der Schublade versteckt. Mein Herz schlägt höher, denn in eine der Kerzen ist bereits mein Name eingraviert. Aiden.
Das ist meine Kerze, für meinen Geburtstag. Anscheinend hat Frau Jäger die Kerzen schon geholt. Fast von selbst streckt sich meine Hand aus. Meine Finger sind fast so weiß wie die Kerzen. Ich ziehe eine aus der Packung, bevor mit bewusst wird, was ich vorhabe. Das ultimative Verbot: Feuer.
Vermutlich wird Frau Jäger es merken. Kerzen sind bei uns so selten, dass sie genau abgezählt sind. Ich bringe mich – und nebenbei auch Fenia, obwohl mir das egal wäre – in die Gefahr, entdeckt zu werden. Frau Jägers Zorn kann schrecklich sein. Und außerdem werde ich die Kerze in ein paar Tagen vollkommen legal anzünden, unter dem Applaus der Erzieherinnen noch dazu.
Aber ich kann mich nicht aufhalte. Das Feuerzeug ist eiskalt in meiner Hand. Wie könnte daraus eine Flamme entstehen? Ich fühle mich, als wäre ich hypnotisiert.
Mit leisen Schritten gehe ich aus der Küche. Ich bleibe im Schatten. Meine Haare und Augen, schwarz wie Kohlen, können mich vor jedem Blick verbergen. Meine blasse Haut dagegen lässt mich nicht mit dem Hintergrund verschwimmen. Wenn mich jemand sehen würde, müsste ich wie ein haarloser Geist wirken. Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück und setze mich auf mein Bett.
Meine Hände zittern, als würde ich frieren, doch ich spüre nichts. Ich halte die Kerze in der einen, das Feuerzeug in der anderen Hand. Doch bevor ich mir noch überlegen kann, wie so ein Feuerzeug funktioniert – bisher konnte ich immer nur die Erzieherinnen beobachten – flackert die Kerze ganz von alleine auf.
Ich hätte vielleicht innehalten und mich bremsen können, doch offenbar will die Kerze brennen. Die Flamme ist hell und leuchtend. Ich spüre die Wärme bis in meine Fingerspitzen.
Das Feuerzeug lasse ich fallen und umschließe stattdessen mit beiden Händen die Kerze. Ihr Licht blendet mich nicht. Ich kann den Rauch und das schmelzende Wachs riechen. Mir ist, als würden meine Augen leuchten. Mein Herz schlägt schneller, aber ich habe keine Angst. Vielleicht sollte ich Angst haben, doch ich bin wie in Trance.
Das Feuer flüstert. Ganz leise. Die Flamme ist zu schwach, als dass ich etwas verstehen könnte. Doch ich sitze da und lausche. Ich verenge die Augen und die Flamme wird größer und heller. Bald brennt sie beinahe größer, als die Kerze ist. Heißes Wachs läuft mir über die Finger, doch ich spüre es kaum. Ich fühle mich vollkommen fremd. Mir ist warm und fast habe ich das Gefühl, neu geboren zu sein. Als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht frieren.
Ich höre, was das Feuer sagt. Es ruft meinen Namen: „Aiden!“
Ich weiß nicht, wie lange ich so sitze, die schlanke Kerze in beiden Händen, und in das Feuer sehe. Meine schwarzen Haare berühren beinahe die leuchtende Spitze der Flamme, die Hitze leckt über meine Stirn. Zum ersten Mal in meinem Leben, scheint mir, friere ich nicht. Immer noch flüstert das Feuer: „Aiden! … Aiden! … Aiden!“
Die Flamme wird größer und kleiner, wenn ich daran denke. Sie formt sich nach meinem Befehl.
Ich fahre auf, als ich Stimmen höre. Die Kinder kommen zurück! Ich muss drei oder vier Stunden einfach nur dagesessen haben! Das Feuer erlischt, als ich panisch aufspringe. Meine Hände sind weiß von Wachs. Er fügt sich wie eine zweite Haut über meine richtige. Die Kerze ist vollständig abgebrannt – die Flamme muss auf meiner Haut gebrannt haben!
Ich fühle mich, als würde ich aus einem tiefen Schlaf erwachen: Noch benommen, aber voller neuer Kraft. Ich wische das Wachs mit wenigen Bewegungen von meiner Haut und knibbele die Reste ab. Schnelle Schritte erklingen auf dem Gang, dann wird meine Tür aufgerissen und Fenia stürmt herein.
„Aiden? Geht es dir gut?“
„Ja“, sage ich langsam und verberge die wachsbeschmierten Hände unauffällig in den Falten meiner Kleidung. Fenia ist außer Atem.
„Ist irgendwas passiert?“, frage ich besorgt.
Fenia schüttelt den Kopf: „Nein, ich – ich wollte nur nachsehen –“, sie schließt die Tür, ohne zu Ende zu sprechen. Ich sehe ihr nach. Es hat sie so sehr fertig gemacht, dass sie Frau Jäger belügen musste? Aber egal, das wäre eh mein letzter Ausflug gewesen. In sechs Tagen bin ich hier raus.