Im Jahr 2977
Es war nicht immer alles schlecht.
Ich erinnere mich. Ana hält mich im Arm. Sie wiegt mich und summt dabei. Ich weine.
Warum ich weine, weiß ich natürlich nicht mehr. Vermutlich hatte ich schon damals meine Alpträume vom Untergang der Welt. Aber Ana kam zu meiner Wiege, hob mich auf und tröstete mich.
Bis heute habe ich keine Ahnung, ob das überhaupt eine richtige Erinnerung ist. Ich habe keine Möglichkeit, Ana danach zu fragen. Ich muss jung gewesen sein, höchstens zwei Jahre alt.
Und schon damals konnte ich fliegen. Nachdem Ana mich getröstet hat, flog ich zum ersten Mal. Und sie erschreckte sich. Dann wurde meine Welt von Gold zu Grau.
Das ist der früheste Fetzen meiner Erinnerung. Ich halte ihn in Ehren. Denn irgendwie fasst er mein ganzes Wesen zusammen: Ich hätte ein normaler, glücklicher Junge werden können. Aber eine Gabe kam mir dazwischen, und verhinderte, dass ich normal wurde. Und die Träume vom Untergang verhindern, dass ich glücklich werde.
Gleichzeitig ist es ein Stück Paradies, das ich immer mit mir tragen kann. Wann immer ich will, kann ich die Augen schließen und bin wieder in Anas Armen, bevor sie Angst hatte.
Es stimmt mich traurig, aber es ist mein einziger Rückzugsort.
Und wenn ich will, kehre ich zurück. Schließe die Augen. Sinke in Anas warme Arme, rieche ihren Duft, träume und spüre meine Tränen trocken.
Sie singt für mich. Ein Wiegenlied, traurig und wunderschön. Vielleicht habe ich es mir nur mit der Zeit vorgestellt, dass sie singt. Aber ich glaube, sie singt ein Lied über Stürme und dass ich mich nicht zu fürchten brauche.
„little child, be not afraid
though storm clouds mask your beloved moon
and its candlelight beams, still keep pleasant dreams
I am here tonight
little child, be not afraid
though wind makes creatures of our trees
and their branches to hands, they're not real, understand
and I am here tonight“ *)
Alles ist hell, Ana ist warm und ihre Stimme ist Musik. Wenn ich zurückdenke, friere ich. Aber es ist ein wunderschöner Ort.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich niemals wirklich glücklich werden kann. Meine fröhlichste Erinnerung ist nicht, dass ich irgendwo spiele, oder etwas Tolles geschenkt bekommen – sondern, dass ich weine, aus Angst vor einem Sturm oder einem Traum.
Aber damals hat Ana mich geliebt. Sie hat mich wirklich geliebt, obwohl ich nicht ihr Kind war. Bis ich zu einem unheimlichen Monster wurde, das sie erschreckte, hat sie mich geliebt.
Und manchmal glaube ich, sie hat mich immer geliebt. Auch später noch. Denn sie hat mich nicht umgebracht, sondern sich alle Mühe gegeben. Sie war schlecht darin, ein Kind großzuziehen, aber das war nicht ihre Schuld. Es wuchs ihr einfach alles über den Kopf. Trotzdem drückte sie das schreiende Baby an sich und sang.
Damals bin ich zum ersten Mal geflogen, und Ana wusste seitdem, dass ich kein normales Kind war. Sie konnte es nicht erklären, und Menschen haben immer Angst vor dem, was sie nicht verstehen. Als ich flog, fürchtete Ana sich, aber sie hat weiter versucht, mich aufzuziehen. Sie hat es wenigstens versucht.
Und wenn ich traurig bin, summe ich das Lied für mich. Es tröstet mich, wie es vielleicht sogar Ana getröstet hat. Manchmal glaube ich fast, dass ich es schaffen kann.
Nicht, mein Schicksal zu erfüllen, das will ich nicht schaffen.
Aber vielleicht kann ich meine Freiheit erlangen.
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*) Das Lied ist „Lullaby for a stormy night“ von Vienna Teng.