1. Dezember
„Was?“, hauche ich. Meine Stimme ist fort. Mein Herz schlägt hoch und schnell.
Shiriki sieht mich an. Und dann – lacht er.
„Du hast mir das echt abgekauft?“, fragt er mich. „Guck dir mal dein Gesicht an, verdammt, Glacia, du hast es echt geglaubt!“
Er lacht so laut, dass ich mein Herz beinahe nicht zerbrechen hören könnte.
Aus dem Schatten unter den Bäumen um uns herum dringt weiteres Gelächter. Wir sind nicht allein!
Mehrere Jungen kommen aus dem Schatten. Einer schlägt Shiriki anerkennend auf die Schulter.
„Der haben wir's gezeigt! Na, Kleine? Traurig?“ Er grinst mich breit an.
Ich spüre einen Kloß in der Kehle und Tränen steigen in meine Augen. Ich kämpfe dagegen an. Vor diesen Idioten will ich nicht weinen!
„Du Idiot!“, schreie ich Shiriki an: „Du dummer Idiot!“
Jetzt steigen die Tränen doch auf. Er hat mich angelogen. Und ausgetrickst.
„Halt die Klappe, Bleichgesicht“, faucht einer der Jungen, die plötzlich den ganzen Platz unter der Trauerweide füllen.
„Glaubt, einer von uns würde sich in so jemanden verlieben!“, spottet jemand anderes.
Ich kann die Tränen nicht mehr aufhalten. Heulend stoße ich blindlings jemanden aus dem Weg, der mich laut auslacht, und renne in den Wald hinein.
„Glacia!“, ruft Shiriki mir hinterher. „Warte! Das war doch nur ein Scherz!“
Ich renne weiter. Die Tränen laufen als dichter Strom über meine Wangen. Wütend ziehe ich den Wintermantel aus und werfe ihn achtlos auf den Boden. Tränenblind renne ich weiter, vom Weg ab und immer tiefer ins Gebüsch.
Wie kann Shiriki so ein Idiot sein? Warum lassen sie mich nicht in Ruhe?
Ich stolpere und halte an.
Als ich mich umsehe, merke ich, dass ich irgendwo im tiefsten Wald bin. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Oder besser gesagt, wo alles andere ist, denn wo ich bin, weiß ich. Ich bin genau hier. Auf einer leichten Steigung irgendwo im Wald. Ich gehe langsamer weiter und suche nach etwas, das mir vertraut erscheint.
Ich bin in diesem Dorf und in den Holzfällerhütten groß geworden. Aber so tief im Wald war ich noch nie.
Ich bekomme Angst. Mir ist kalt. Ich trage nur eine Hose und das Hemd, weil ich so blöd war, meinen Mantel auszuziehen. Aber ich bin immer noch wütend. Schniefend wische ich mir Tränen von der Wange. Hoffentlich machen sich Shiriki und seine Bande von Idioten Sorgen! Ich verschränke die Arme zitternd vor der Brust. Mein Atem steigt immer noch als Wolke auf.
Warum war ich auch so dumm und habe geglaubt, Shiriki könnte mich lieben? Eine blonde Strähne fällt mir ins Gesicht und ich packe sie wütend und zerre daran, bis der Schmerz mir neue Tränen ins Gesicht treibt. Ich falle auf die Knie und vergrabe das Gesicht in den Händen.
„Warum?“, schluchze ich. „Warum könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?“
Das war schon immer so. Als Kind wurde ich bei den Hütten abgegeben, als ein Baby. Das ist bald 13 Jahre her. Ich bin die einzige Weiße hier und nebenbei auch das einzige Mädchen. Die Männer kümmern sich um mich, aber die Jungen sind gemein. Sie lassen mich spüren, dass ich anders bin.
Ich stehe wieder auf und laufe weiter. Irgendwann erreiche ich einen kleinen Bach.
Ich erinnere mich nicht, von einem Bach im Wald gewusst zu haben. Ich habe mich verlaufen. Müde setze ich mich am Bach auf den Boden.
Die Tränen sind inzwischen auf meinen Wangen gefroren. Mir ist so kalt, dass ich zittere. Es ist Nacht geworden. Unheimliche Geräusche hallen durch den Wald. Eulenrufe. Äste, die brechen.
Es soll hier noch Wölfe und Bären geben. Ich krieche unter einen Busch und rolle mich dort zusammen. Wenn die Kälte mich nicht tötet, dann die wilden Tiere!
Vielleicht ist es besser so, denke ich. Ich kann mir sowieso nicht vorstellen, zurück zu gehen und Shiriki noch einmal zu sehen – jetzt, wo er Bescheid weiß, und ich auch.
Ich schließe die Augen. Es fängt an zu schneien.