Demetia – 20. September
Mitten auf der Lichtung ist ein Erdhügel, nicht mit Pflanzen bewachsen. Es ist ein Grab und mir wird eisig kalt, als ich näher trete.
„Dimitri. Mitja“, flüstere ich. Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Seit drei Tagen habe ich die Befürchtung, dass mein Bruder in Gefahr ist. Jetzt habe ich den Beweis, dass ich zu spät komme.
Trotzdem gebe ich nicht auf. Ich knie mich vor das Grab und beginne, die Erde mit beiden Händen weg zu schaufeln.
„Mitja!“, schreie ich, als könnte ich ihn wecken.
Ob ich ihn noch einmal retten könnte, indem ich ihm meine Energie gebe? Doch ich fürchte, es ist zu spät. Ich kann nur handeln, solange der Körper noch warm ist, denn etwas muss die Energie ja aufnehmen.
Einer leeren Hülle Energie einzuhauchen, ist im besten Falle sinnlos, und im Schlimmsten unnatürlich.
Das Grab ist tief, vermutlich genau so tief wie ein echtes Grab. Doch während ich grabe, kommen mir Pflanzen zu Hilfe. Schlingpflanzen und Farne beginnen, mit mir Erde zu schaufeln. Schneller, als es mir allein möglich wäre, grabe ich mich in die Tiefe.
Ich stoße mit den Fingern auf Stoff und kann die knallgelbe Jacke unter der Erde erkennen. Sofort greife ich zu und ziehe. Dimitris blasses Gesicht taucht aus seinem erdigen Grab auf, noch voller brauner Erdklumpen. Ich wische sie beiseite und halte meinen Bruder im Arm.
Und dann stocke ich.
Er atmet noch. Dimitri atmet. Und er lebt.
Ich kann es kaum glauben und horche an seiner Brust: Ja, dort schlägt ein Herz!
Bilde ich es mir nur ein? Ich rufe seinen Namen und ohrfeige ihn. Sein Kopf rollte kraftlos zur Seite. Aber er ist nicht steif!
Sofort wuchte ich ihn auf meine Arme und bin erschreckt, wie leicht er ist.
Verwirrt streiche ich durch seine Haare. Sie sind dunkler geworden. Jetzt sind sie rötlich braun statt hellrot. Auch scheinen sie mir lockiger.
Ich ziehe an meinen eigenen Haaren, die aus irgendeinem Grund kürzer geworden sind.
Wir bekommen braune Locken! Jetzt werden wir endlich auch wie Zwillinge aussehen!
Wenn ich Mitja retten kann, heißt das.
Ich klettere mit ihm aus dem Grab, das keines war. Dann sitze ich auf der Lichtung und halte ihn im Arm, als wäre er viele Jahre jünger und nicht nur ein paar Stunden. Ich weine vor Erleichterung. Mitja lebt. Es geht ihm gut. Er schläft.
Aber wie wecke ich ihn? Diese Frage macht mir Sorgen. Wenn er nicht von selbst aufwacht, wird er vielleicht im Koma bleiben. Und dann muss ich heraus finden, wie ich ihn ernähre und so vieles mehr. Wir sind mitten im Wald. Ich weiß nicht, ob ich ihn überhaupt in die Stadt tragen könnte. Vielleicht bin ich zu schwach dafür. Wie weit ist die Stadt eigentlich noch?
Plötzlich bewegt er sich in meinen Armen.
„Mitja!“, rufe ich. „Oh Gott, geht es dir gut?“
Er schlägt mit flatternden Lidern die Augen auf und sieht mich müde an.
„Demia“, seine Stimme ist ein Flüstern.
Ich helfe ihm, sich aufzusetzen: „Mitja. Alles in Ordnung?“
Er nickt langsam: „Ich wusste … dass du kommen würdest … aber ich wusste ... es nicht. Verstehst du?“
Ich schüttele wahrheitsgemäß den Kopf: „Hier, ich habe etwas zu essen und zu trinken. Nein, bleib sitzen, du bist noch schwach.“
Ich drücke ihn sanft zurück in eine liegende Position, doch er greift meinen Arm: „Demia! Ich muss es dir erzählen!“