22. September
Ich glaube, ich habe nicht eine einzige Sekunde Rast gemacht seit meinem Versuch, den Polizisten zu retten.
Sam und ich haben die Stadt verlassen. Ich habe nicht versucht, eine Bahn zu nehmen oder etwas in der Art, was zuvor mein Plan war. Mit Sam an meiner Seite habe ich mich zu Fuß direkt in die Wälder geschlagen.
Tagsüber muss ich mich irgendwo verstecken. Sobald die Sonne aufgeht, werde ich unbeschreiblich schwach, kann mich kaum rühren. Erst, wenn der Abend herein zieht, bin ich stark genug, um weiter zu gehen.
Streng genommen mache ich also doch Pausen. Doch es fühlt sich nicht nach einer Rast an. Auch wenn ich in einem kläglichen Schatten hocke und warte, bis die Nacht wieder heraufzieht, sind meine Gedanken weiter auf der Flucht.
Ich habe zwei Menschen getötet. Ich habe gespürt, wie ihr Leben erlischt, habe mit eigenen Augen ihre leblosen Körper gesehen.
Die Bilder haben sich in meine Seele gebrannt. Die Ereignisse der besagten Nacht sind für mich verschwommen und verzerrt. Ich weiß, dass ich aufgesprungen bin, um den Mann zu warnen, der das nächste Opfer werden sollte. Dann sehe ich die Toten, Wolfgang und Björn, von meinen Händen um ihr Leben gebracht.
Ich erinnere mich auch gut an das kleine Mädchen, dass am Fenster gestanden hat. Ihre Augen verfolgen mich ebenfalls in meine Träume hinein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie zu mir spricht.
Aber ihre Lippen bewegen sich nicht. Es ist die Dunkelheit, die mit mir redet. Meine neue Macht, mein Verhängnis. Sie hat eine Stimme, und sie will mir Dinge beibringen.
Will mich lehren, sie zu nutzen.
Ich habe Angst. Angst vor mir selbst. Ich habe eine kleine Ahnung davon bekommen, wozu ich fähig sein könnte. Ich weiß, zu was für einem Monster ich werden kann.
Ich will das nicht. Ich will auch diese Kraft nicht. Ich möchte wieder normal sein, auch, wenn das mein Tod wäre.
Denn Jens ist mir auf den Fersen. Ich höre ihn, spüre seine Gedanken.
Er ist von Rache getrieben. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ich habe Mitleid mit ihm. Björn und Wolfgang waren seine Familie. Ich habe sie ihm genommen.
Ich habe es wirklich nicht gewollt. Ich wollte sie aufhalten, nicht töten. Ich hatte Angst.
Aber das war nicht alles. Ich erinnere mich. Ich sehe etwas – die Wahrheit. All die Geheimnisse, die die Nacht verbirgt, können ihre Schatten nicht vor meinen Augen verstecken.
Etwas hat meine Hand geführt. Etwas, das nicht mein Wille war. Eine unheimliche Mischung aus Energie und … Gier.
Ich schaudere noch heute, wenn ich daran denke. Dieses Gefühl – ein Hunger. Unstillbar, unberechenbar. Das war nicht ich – oder?
Ich scheue davor zurück, diesem Hunger noch mehr Macht zu verleihen. Mehr Kraft, mit der er seine Gier befriedigen kann, das wäre mehr Kraft, um Verderben zu sähen.
Ich muss das verhindern. Oder ich werde noch der Grund sein, dass Millionen von Menschen sterben! Wenn es doch nur einen Weg gäbe, diese Macht abzugeben. Das Geschenk abzulehnen und nie wieder damit in Berührung zu kommen.
Ich weiß, dass ich ohne diese Macht vermutlich tot wäre. Aber ich weiß auch, dass ohne diese Macht wenigstens zwei andere Menschen am Leben wären.
Habe ich das Recht, so einfach Leben zu tauschen? Habe ich irgendein Recht?
Ich stolpere und falle auf den kalten Boden. Ich liege irgendwo, zwischen Wurzeln und feuchten Blättern. Sam ist vorgelaufen und kommt zurück, um mir mit seiner warmen Zunge das Gesicht zu lecken.
Ich kraule ihn.
Ich bin so müde. So erschöpft. Ich möchte nur ein wenig schlafen. Vielleicht eine Minute die Augen schließen. Eine halbe Stunde lang vergessen.
Ich weiß, dass Alpträume auf mich warten. Ich höre auch die Stimme der Dunkelheit, die mich ruft. Einzuschlafen würde bedeuten, dass ich meine Menschlichkeit aufgebe.
Aber ich kann nicht mehr wach bleiben.
Meine Augen fallen zu. Und Jens kommt mit jeder Sekunde näher.