Dimitri – 21. August
„Demia, mir ist kalt“, flüstere ich. Sie reagiert nicht auf mich, auch nicht, als ich ihr in die Schulter kneife.
„Demia!“, rufe ich ängstlich: „Demia, sag was!“
Sie schweigt weiterhin. Vermutlich schläft sie nur. Mit einem ganz komischen Gefühl im Magen krieche ich auf die andere Seite der Kuhle, dorthin, wo ich am Weitesten von ihr entfernt bin.
Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und die angezogenen Knie: „Du hast gesagt, bald kommt jemand!“
Es ist sehr früher Morgen. In dem Loch ist es kalt von Tau. Wir haben einen ganzen Tag und zwei Nächte hier verbracht: „Du hast gesagt, es wären nur ein paar Stunden!“
Ich weiß, dass sie nichts dafür kann. Mir ist kalt, ich habe Hunger und Durst und ich glaube, ich muss in diesem Loch sterben.
„Demia … bitte … sag, dass sie uns bald hier raus holen.“
Es kommt keine Antwort. Ich kauere mich noch enger zusammen und lege das Kinn auf meinen Armen ab.
Ich habe die ganze letzte Nacht nicht schlafen können. Ständig habe ich laute Geräusche gehört, ich habe Angst. Aber Demia ist eingeschlafen. Die letzte Nacht hat sie mich ständig im Arm gehalten und getröstet, aber jetzt ist sie einfach eingeschlafen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht zu weinen. Ich bin nur müde, rede ich mir ein. Und ich habe Angst. Demetia muss es genauso gehen, vielleicht sogar noch schlimmer, denn sie ist ja verletzt und muss für mich stark sein. Aber ich kann nicht gegen die dunklen Gedanken ankämpfen, die ähnlich wie die Morgensonne in meinem Kopf aufsteigen.
Sie hat mich allein gelassen. Allein mit diesem hässlichen Loch voller Dreck und Würmer und Käfer.
Wütend grabe ich meine Finger in die kalte Erde.
Demetia würde es bestimmt verbieten, wenn sie wach wäre. Sie würde sagen, dass ich mich nur dreckig machen würde. Aber meine Finger sind sowieso schmutzig. Und sie ist ja nicht wach.
Ich benehme mich wie ein Kleinkind und das macht mich nur noch wütender. Ich glaube, ich bin in erster Linie wütend auf mich selbst.
Während ich die kalte Erde durchwühle, spüre ich den Hass wie eine sich langsam auftürmende Gewitterwolke.
Am liebsten würde ich mich noch tiefer eingraben und nie, nie, nie wieder ans Tageslicht kommen! Es sucht doch eh niemand nach uns!
Im nächsten Moment rutsche ich mit einem Schreckenslaut ein ganzes Stück nach unten und hocke plötzlich in einer neuen Erdkuhle. Diese geht mir zum Glück nur bis zum Knie, als ich aufstehe und daraus springe.
Was ist gerade passiert? Stürzt hier gleich noch mehr ein? Ich suche nach festem Boden, wo ich vor jedem Abrutsch sicher bin.
Im nächsten Moment bewegt sich die Erde unter mir. Starr vor Schreck kann ich mich nicht bewegen. Erde rutscht zur Seite, etwas Weißes gräbt sich nach oben, bis es unter den Sohlen meiner Turnschuhe zum Stehen kommt.
Ich starre darauf. Es ist ein Stein. Ein weißer Stein, vielleicht Kreide oder so.
Fester Boden, fährt es mir durch den Kopf. Ich habe mir doch festen Boden gewünscht, oder nicht?
Meine Beine zittern, als wäre ich gerade gerannt. Aber viel mehr noch schwirrt mir der Kopf. War ich das? Habe ich den Stein … gerufen?
Die Theorie muss ich sofort austesten – und ich weiß auch, wie. Ich wünsche mir eine Treppe aus der Grube heraus, stelle sie mir vor, spüre förmlich, wie sich die Erde vor mir bewegt und Stufen bildet.
Ich höre das Rascheln von fallender Erde. Als ich die Augen öffne, gräbt sich vor mir, ganz langsam, eine Treppe in die Erde am Rand der Grube.
Ich halte den Atem an. Auch die Erde stoppt in ihrer Bewegung.
Ich muss mich also darauf konzentrieren, was ich tue? Ich lege die Stirn in tiefe Falten und fixiere die werdende Treppe. Tatsächlich bewegt sich die Erde weiter.
Als ich fertig bin und überlege, wie ich Demetia die schmale und steile Treppe hinauf kriegen soll, schlägt sie die Augen auf.
„Dimitri?“, sagt sie müde. „Ich glaube, mein Bein ist gesund.“
Ich sehe auf das besagte Bein. Es liegt gerade da, aber es ist immer noch Blut an der Hose. Langsam steht Demetia auf und stützt sich dabei mit einer Hand an der Wand des Erdloches ab.
Dann belastet sie ihr Bein vorsichtig. Ich bin so müde und verwirrt von den Dingen, die gerade passieren, dass ich mich nicht rühren kann und nicht zu ihr laufe, um ihr zu helfen. Demetia macht ein paar vorsichtige Schritte.
„Mein Bein ist heil.“
„Wie ist das möglich?“, hauche ich leise.
Demetia zuckt mit den Schultern: „Vielleicht war es von vorneherein nur verstaucht. Ich bin ja keine Ärztin.“
Ich deute mit einem zitternden Finger auf die Treppe in der Erde: „Gehen wir?“
Demetia sieht auf die Treppe und nickt müde. Sie stellt keine Fragen. Gut, ich könnte sie nämlich nicht beantworten. Ich stütze sie leicht, aber eigentlich stützen wir uns gegenseitig. Es ist Mittag. Wir sind beide hungrig und müde und erschöpft.
Aber vor allem haben wir so viele Fragen im Kopf, dass wir uns kaum auf den Weg zurück konzentrieren können.