5. Dezember
Das Feuer hat zu mir gesungen. Es hat mit mir gesprochen. Die letzten Nächte habe ich wie in Trance verbracht. Ich kann mich an jede vergangene Sekunde erinnern, an jedes Wort aus diesem unglaublichen Traum. Der Tag dazwischen scheint mir jedoch wage und verschwommen, als hätte ich ihn nicht mit wachem Geist verbracht.
Jetzt wird es dunkel und das Feuer schweigt. Ich weiß, dass ich noch viel zu lernen habe. Doch vorher muss ich mich würdig erweisen – und meinen Weg wählen.
Ich husche durch die dunklen Gänge. Das Abendessen ist vorbei, die kleineren Jungen müssen in ihre Betten. Jakob wird bei ihnen sein, denn alleine wandert er nicht durch das Haus. Die Erzieherinnen werden damit beschäftigt sein, die Küche und den Esssaal zu reinigen. Ein Teil von ihnen schläft vielleicht auch schon.
Ich muss mir bewusst machen, dass ich nur noch wenige Tage hier sein werde. Am 7. Dezember ist mein Geburtstag – in zwei Tagen. Wie schnell die Zeit doch vergeht, wenn man lernt.
Mein Herzschlag ist ruhig. Ich bewege die Hände leicht. Meine Fingerspitzen sind warm, wo der Rest meines Körpers friert. Seit ich die Wärme des Feuers kenne, spüre ich die Kälte umso mehr.
Mein Weg führt mich aus dem obersten Stock, wo mein Zimmer liegt, in das Stockwerk darunter. Hier, im ersten Stock, schlafen die Kleinsten. Dort, wo Frau Jäger oder eine ihrer vielen Helferinnen jeden Schrei hören können. Ich halte die Luft an, während ich schleiche. Sorgsam belaste ich die knarrenden Bodendielen mit meinem Gewicht. Es ist ein altes Haus, das schnell knarzt. Ich darf nicht zu viele Geräusche machen.
Doch niemand bemerkt mich, wie ich durch das Haus schleiche. In einer dunklen Nische hocke ich mich hin. Ich nutze meine neue Macht über das Feuer, die es mir auch erlaubt, Licht von mir zu lenken. Der Trick funktioniert nur mit Licht, dass durch Feuer entsteht. Das Licht, dass durch die Fenster fällt, ist das Licht von Sternen und das durch den Mond widergespiegelte Licht der Sonne. Die Quellen dieser Lichter sind feurige Gasbälle, meilenweit entfernt. Und obwohl ich die Sterne selbst nicht erreichen kann, kann ich ihr Licht dazu überreden, einen kleinen Bogen um meine geduckte Gestalt zu machen.
Schon dieser kleine Trick kostet mich Kraft. Ich muss Energie manipulieren und dazu brauche ich selbst Energie. Das Feuer hat mir erklärt, wie es funktioniert, im Traum, in Bildern und Szenen, nicht in Worten.
Feuer aus dem Nichts zu erschaffen kostet Kraft, aber jede andere Flamme, die sich selbst entzündet hat, kann ich als Kraftquelle nutzen. Ebenso die natürliche Wärme in der Welt. Lava. Die gespeicherte Hitze des Tages im Erdboden. Und die Wärme lebender Körper.
Meine Abschlussprüfung.
Ich ertaste die Körper der schlafenden Kinder, als ich mein Bewusstsein ausdehne. Ich kann sie sehen oder riechen. Es ist eine Mischung aus allen meinen Sinnen, vielleicht auch ein gänzlich neuer Sinn. Es ist am ehesten so, dass ich ihre Wärme wahrnehme, auch durch die kalten Türen hindurch.
Ich greife nach der Wärme und schon steigt neue Hitze in meine Fingerspitzen. Ich nehme von allen Kindern ein bisschen. Es sollte ihnen nicht einmal auffallen. Vielleicht werden sie morgen ein wenig müder sein oder in der Nacht stark frieren.
Draußen ist es still. Von meinem Beobachtungspunkt kann ich in den Hof sehen und die uralte Eiche an der Auffahrt erkennen.
Ich konzentriere mich, fixiere meine Gedanken auf diesen Baum. Das Holz ist eisig kalt und hart wie Stein, das spüre ich bis hierher. Meine Lider flattern ein wenig, als ich mein Bewusstsein so sehr ausdehne. Meine Umgebung nehme ich kaum noch wahr, nur den Baum und meine heißen Finger.
Ich strecke die Hände aus, doch die Kraft reicht nicht. Ich brauche mehr Kraft.
Es ist, als würden meine Gedanken balancieren. Aber es ist erstaunlich einfach, als wäre ich dafür geboren. Ich zapfe alle Kinder gleichzeitig an. Ihre Wärme ist leicht zu finden, denn einmal angezapft, bleibt eine schwache Spur aus Energie zurück. Ein Schatten der Hitze. Ich nehme ihre Kraft, Atemzug für Atemzug. Dann sehe ich den Baum an und flüstere: „Brenne!“
Es funktioniert! Es ist ein Wunder. Eine winzige Flamme leckt aus dem Nichts an dem Holz. Der schneebedeckte Baum qualmt und raucht. Ich spüre, wie die kleine Flamme friert. Sie droht zu sterben.
Das darf nicht passieren! Ich lege die Stirn in Furchen. Noch mehr Kraft sauge ich meinen Spendern aus. Die Flamme wächst. Der Schnee von den Ästen schmilzt und tropft auf den Boden. Endlich, endlich findet das Feuer von selbst Nahrung. Es schlägt hoch in den Himmel aus, wie ein übermütiges Pferd. Der Baum brennt lichterloh.
Ich unterbreche meine Verbindungen als Energieleiter und lehne mich zurück. Mein Atem geht schwerer. Ich wische mir mit dem Ärmel meines Schlafanzuges Schweiß von der Stirn.
Ein Schrei aus dem Geschoss unter mir kündigt an, dass meine Tat entdeckt wurde. Man wird sich wundern – wer zündet einen alten Baum vor einem Waisenhaus mitten im Nirgendwo an? Warum? Und wie, ohne Benzin oder sonstige Anzünder?
Ich schleiche zurück in mein Bett, ungehört und ungesehen. Ich bin ein Geist, ein Schatten.
Ich bin das Feuer.