Demetia – 12 September
„Wo ist Mitja?“, frage ich, als ich aufwache und meinen Bruder nirgendwo sehen kann. Die Stelle, wo er jede Nacht geschlafen hat, ist leer. Offenbar hat die ganze Nacht lang niemand dort geschlafen, denn die Decken sind so ordentlich gefaltet, wie ich sie hinterlassen hatte.
Ich stehe auf und reibe mir die Stirn. Ich bin so müde!
Aber jetzt muss ich wissen, wo mein Bruder ist.
Auf meine Frage antwortet niemand. Es ist früher Morgen, so früh, dass der Himmel grau ist. Alle anderen schlafen noch, zitternd in ihre Decken gerollt. Ich ziehe einem Kind die Decke hoch, dem sie von den Schultern gerutscht ist und verlasse den alten Stall.
„Dimitri?“, rufe ich leise. Mein Atem steigt als Wolke auf. Ich habe keine Ahnung, was mich geweckt hat. Vermutlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.
Unruhig drehe ich mich im Kreis. Was soll ich jetzt tun? Ich weiß nicht, wo Dimitri ist. Am Ende ist er gegangen!
Ich renne los und laufe die Gegend um das Waisenhaus ab: Den Garten des Klosters mit seinen Kräutern und meinen Obstbäumen, die zerstörten Ställe, das zerbrochene Gebäude. Noch einmal husche ich in das Kloster und zähle die Kinder. Dann renne ich hinaus in den Wald.
Ja, Dimitri ist fort. Für einen Moment habe ich eine Art Vision: Mein Bruder, in seiner knallgelben Winterjacke, wie er alleine durch die Wälder stapft. Und Etwas folgt ihm.
Ich muss ihn finden! Doch ich darf nichts überstürzen. Noch einmal renne ich zum Kloster zurück und packe mir eilig eine Tasche mit Essen und einer Decke.
Dann schreibe ich einen kurzen Brief an Mutter Marija: „Mutter, mach dir keine Sorgen. Mitja und ich mussten gehen; wir haben einen Plan und sind bald zurück. Demetia.“
Ich lege den Zettel auf den kaputten Schrank, der uns zur Zeit als Tisch dient, dann ziehe ich meinen Mantel über die Schultern. Lautlos trete ich auf den Hof, wo überall Trümmer und Erdklumpen verstreut liegen. Der Metallzaun hat große, klaffende Löcher. Ich sehe ein letztes Mal zurück, schuldbewusst. Die Menschen hier brauchen mich. Aber ich, ich brauche Mitja, meinen Bruder! Ich kann nicht immer nur an andere denken!
Ich knöpfe meinen Mantel zu, während ich mit schnellen Schritten aus dem zerbrochenem Tor trete und mich in die Wildnis aufmache.
Eine Haarsträhne fällt mir ins Gesicht. Als ich sie zur Seite streichen will, stocke ich. Braun? Meine Haare sind doch nicht braun!
Ich ziehe an dem Haar, doch es ist festgewachsen und der Schmerz treibt mir Tränen in die Augen, bevor ich die Strähne in den Händen halte.
Braune Haare, tatsächlich. Sogar leicht gelockt.
Was geht hier vor sich?
Ich vergrabe die Hände tief in meinen Taschen. Wie soll ich Dimitri hier draußen finden? Ich erinnere mich an die Wölfe, die wir Nacht für Nacht heulen hören.
Hoffentlich weiß mein kleiner Bruder, was er tut! Ich beschleunige meine Schritte.
Ein Instinkt oder so zieht mich vorwärts. Wenn ich die Augen schließe, kann ich Dimitri vor mir sehen, wie er mit seinen kurzen Beinen durch die Wälder rennt.
Er weiß, dass ich ihm folge. Aber ich werde mich nicht abschütteln lassen. Ich konzentriere mich auf das Bild vor meinem Inneren Auge, dann folge ich Dimitri. So schnell mich meine Füße tragen, springe ich über Baumstämme und Furchen in der Erde. Die kalte Luft brennt in meinen Lungen, aber ich gebe nicht auf.
Ich muss Dimitri finden!
Oh ja, es war ein Fehler, nicht mit ihm zu sprechen. Wie konnte ich nur so blind dafür sein, dass mein Bruder leidet? Wie konnte ich nur so dumm sein?
Wenn ihm etwas zustößt, werde ich mir das nie verzeihen.