23. September
Sam liegt neben mir und winselt. Mit seiner rauen Zunge leckt er über mein Gesicht, bis ich mich bewege und ihn von mir schiebe.
Langsam öffne ich die Augen und blicke in eine aufziehende Dämmerung hinter dürren, blattlosen Ästen.
Ich liege im Wald, auf dem Boden. Raureif ziert die Blätter und mein Körper ist eisig kalt. Langsam nur kann ich mich wieder bewegen, strecke einen Finger nach dem anderen.
Meine Fingernägel sind nicht blau, wie ich angenommen habe. Viel mehr scheinen sie noch ein bisschen dunkler rot zu sein.
Ich sehe auf meine Arme, krempele die Ärmel meiner Jacke hoch.
Meine Haut ist bleich wie der Mond geworden. Ich streiche über meine Arme und sehe, wie sich dunkle Schatten unter meiner Haut bewegen.
Sie formen dunkle, verschwommene Linien. Stellenweise sind die Linien klar zu erkennen und sehen aus wie geschwungene Tattoos.
Ich weiß, was das bedeutet. Der Schatten wird eins mit mir. Die Nacht taucht in meine Gestalt ein und ich in ihre. Magie verändert mich. Ich kann es nur zulassen.
Ich spüre, wie mein Traum mir entgleiten will. Schnell greife ich danach und halte ihn fest.
Ich habe eine Aufgabe. Das Ende kommt. Und sieben Kinder müssen es aufhalten.
Die Sieben, die nicht ausreichen. Die fehlerhaft waren und verkommen.
Ich stehe auf und rufe meine Macht mit einem einzigen Gedanken. Schatten steigen aus meiner Brust in meine Augen und lassen mich sehen. All die Geheimnisse, die die Nacht vor uns hat.
Ich sehe sie, die sechs anderen. Weit entfernt, sodass ihre Auren aus dem Erdboden zu leuchten scheinen. Sie sind über die ganze Welt verteilt. Doch nicht immer sind sie alleine.
Zwei sind bereits erwacht. Ihre Auren leuchten hell und feurig, Seite an Seite, vielleicht sogar im Kampf miteinander. Zwei andere sind ebenfalls erwacht. Doch nutzen sie ihre Macht nicht. Sie sind im Schlaf, fast direkt zu meinen Füßen, also auf der anderen Seite der Welt. Ihre Lebensenergie ist warm und braun, freundlich.
Eine Aura ist ganz in der Nähe. In den Wäldern, kaum unter dem Horizont. Sie erwacht gerade. Es ist eine helle Aura, leuchtend weiß und blau. Eis.
Ich öffne die Augen wieder und sehe weniger. Dafür sehe ich den Wald und Sam, der im trockenen Laub nach etwas Essbarem sucht. Ich habe noch ein paar Würste in der Tasche, die ich für uns gestohlen habe. Wir teilen uns drei, dann laufen wir weiter.
Mitten im Wald sind wir auf uns allein gestellt. Doch jetzt weiß ich, dass wir nicht allein sind.
Noch etwas sehe ich, als ich meine Schattenmacht anwende, um unsere Umgebung zu beobachten. Nicht weit entfernt brennt eine Aura in Hass und schwelt voller Rache.
Das ist Jens. Er folgt unserer Spur, mit welcher unheimlichen Macht auch immer.
Er will sich rächen und er wird sich nicht abschütteln lassen.
Ich treibe mich und Sam weit über unsere Grenzen. Wir dürfen auf keinen Fall von Jens eingeholt werden. Er ist schnell, also hat er ein Auto oder etwas Vergleichbares. Vielleicht folgt er unserer Spur mit Jagdhunden, obwohl ich das kaum glaube. Wenn er nicht direkt weiß, welchen Weg wir gegangen sind, hält ihn das vielleicht auf. Wir haben wenig Spuren hinterlassen. Doch ich fürchte, dass Jens den ganzen Wald durchkämmen wird, bis er uns hat.
Und ich weiß nicht, in welche Richtung wir fliehen sollen. Die nächste Stadt ist ein paar Kilometer entfernt. Wir brauchen Essen, denn jagen können weder Sam noch ich sehr gut. Aber ich fürchte, wenn wir uns den Straßen nähern, wird Jens uns finden – oder ein Freund von ihm. Ich bin mir sicher, dass er gute Kontakte hat.
Himmel, er gehört zur Drogenmafia! Vermutlich hat er allen seinen Kumpanen erzählt, dass ich ihre schmutzigen Geheimnisse kenne und auf direktem Weg zur nächsten Polizeiwache bin.
Ich muss verschwinden, so tief im Schatten, dass selbst die Nacht mich nicht mehr finden würde. In welche Richtung?
Ich zögere, dann weiß ich es. In die Richtung, in der die Aura aus Eis erwacht. Ich werde das Kind der Kälte finden, und ihm beibringen, was ich weiß.
„Komm, Sammyboy“, sage ich und gehe zielstrebig los: „Wir haben eine Welt zu retten!“