14. Dezember
Wir gehen schweigend. Irgendwie ist meine Hand in seiner gelandet. Es ist seine linke Hand, die, die nicht verletzt ist. Ich würde ihn gerne fragen, woher er die Wunde hat, doch im Moment möchte ich noch viel lieber schweigend neben ihm laufen. Er spendet mir Wärme, denn aus irgendeinem Grund ist mir kalt.
Ich spüre meine Kraft nicht mehr. Ein Gefühl ist aufgekommen. Je mehr ich fühle, desto weniger Kälte ist in mir.
Gegen dieses Gefühl kann ich nicht kämpfen. Ich habe mich verliebt.
Mingan. Ich kenne ihn erst seit ein paar Minuten. Oder vielleicht seit einer halben Stunde. Aber es kommt mir so vor, als wäre es ewig. Was passiert ist? Keine Ahnung. Eben noch wollte ich ihn umbringen, jetzt will ich bis ans Ende meines Lebens an seiner Seite sein.
Vielleicht, weil er der erste Mann ist, der mich berührt. Der mich annimmt, wie ich bin.
Der mich nicht belügt.
Die Stille ist friedlich. Die Kälte romantisch. Mingans Nähe lässt mich unbeschwert werden.
Schließlich bleibt er stehen und sieht mir in die Augen. Wendet sich mir zu. Er ist jung. Auch wenn seine Augen alt wirken, er kann nicht viel älter als Shiriki sein.
Vielleicht ist er ebenfalls 16. Ich würde ihn gerne fragen, aber ich wage es nicht.
„Glacia, ich muss dich um etwas bitten“, sagt er leise.
Ich sehe zu ihm auf. Er ist wirklich groß. Aber seine Hände liegen auf meinen Schultern und ich fühle mich, als sei er nicht ganz so weit über mir.
Ich spüre bereits, was er mir als Wasser vorgestellt hat. Eine andere Form meiner Eismagie.
„Was?“, frage ich, unfähig, lange Sätze zu bilden.
Er lächelt: „Ein Atemzug Wasserkraft.“
Ich verstehe, was er meint und werde rot. Er lächelt und beugt sich zu mir: „Nur einen winzigen Schluck.“
Ich recke mich ihm entgegen.
Es heißt, seinen ersten Kuss vergisst man nicht. Ich werde ihn auf keinen Fall vergessen. Mingan küsst mich sanft auf die Lippen. Er beobachtet mein Gesicht, auf der Suche nach einem Zurückzucken. Ich weiß, wenn ich auch nur um den Hauch einer Schneeflocke zurückweiche, wird er aufhören. Ich rühre mich kaum.
Die Kraft, von der er sprach, kommt wie ein Traum über mich. Ich schließe die Augen und sehe – oder spüre – wozu ich fähig sein kann. Er zeigt mir nicht, wie. Aber er sagt mir, was. Ich kann im Wasser leben, ausdauernd schwimmen. Ich kann Wasser erschaffen, Fluten lenken, im Mondlicht Kraft tanken. Und ich kann Leben zurückgeben. Die Macht des Wassers ist es, Leben zu geben, mit der geballten Macht aller Weltmeere.
Wir lösen uns. Mingan sieht mich an. Er ist warm und ohne zu zögern kuschele ich mich an ihn.
Er hält mich eine Weile im Arm, dann lösen wir uns. Ich drehe mich um.
Und sehe die Holzfäller mit gezückten Äxten um uns stehen. Fackeln brennen in den Himmel. Ich habe meine Eismagie losgelassen, deshalb habe ich sie nicht bemerkt.
„Gut Arbeit, Magierjäger“, sagt jemand. Man wirft Mingan einen Beutel zu, in dem es verdächtig nach Münzen klingelt. Ich sehe ihn sprachlos an.
„Hast du –“
Ich kann es nicht aussprechen. Schon wieder. Schon wieder wurde ich benutzt. Tränen schießen in meine Augen. Ich kann das Eis nicht rufen.
Ich merke, dass Mingan meine Kraft blockiert hat. Seine Augen, so schwarz, dass ich sie lieben könnte, sehen mich kalt an.
Ich raffe meine letzte Kraft zusammen und schieße einen Ball aus Eis direkt in Mingan Brust, wo ich eben noch sein Herz habe schlagen hören.
Er reißt die wunderschönen Augen auf und fällt auf die Knie.
„Lügner“, knurre ich heiser.
Dann drehe ich mich um und renne. Eine Lücke zwischen den Holzfällern, ich husche hindurch. Ihre Schreie folgen mir, während ich renne, atemlos und ohne meine Kraft.
Tränen laufen über meine Wange.
Ich bin so dumm! Ich falle immer wieder auf diese Menschen herein. Mein erster Kuss war eine Lüge!
Ich könnte schreien. Mingan hat mich benutzt. Vielleicht sogar manipuliert.
Ich renne weiter. Hass steigt in mir auf. Leben geben! Als könnte ich damit etwas anfangen.
Was ich will, ist töten! Für jede Lüge einen eisigen Tod, das ist meine Gerechtigkeit.