Demetia – 19. August
„Dimitri, warte!“, rufe ich, während ich hinter meinem wilden Bruder durch den Wald hetze. Zwischen den Bäumen leuchtet irgendwo weit vor mir seine gelbe Jacke auf wie ein Leuchtfeuer.
„Dimitri!“
Ich liebe meinen kleinen Bruder. Aber manchmal ist er einfach nur anstrengend. Heute ist er wegen irgendeiner Kleinigkeit beleidigt. Ich habe es nur am Rande mitbekommen, aber er hat mal wieder seinen Willen nicht bekommen. Und dann läuft er jedes Mal kopflos in den Wald.
Es ist bereits dunkel. Am Ende drehte sich der Streit darum, dass er ins Bett musste, aber nicht wollte. Na toll!
„Dimitri! Bleib stehen!“
Ich sehe ihn nicht mehr vor mir. Keuchend werde ich langsamer und ziehe den dünnen Mantel gegen den kühlen Abendwind enger um mich. Die Wälder können extrem gruselig sein, wenn es dunkel wird.
Zum Glück trägt mein sturköpfiger Bruder selbst im Hochsommer seine knallgelbe Winterjacke. Wo auch immer er ist, ich werde ihn schon von Weitem sehen können.
„Dimitri?“
Meine Stimme kommt mir in meinen eigenen Ohren gleichzeitig viel zu laut und viel zu dünn vor. Ich halte einen Moment inne und lausche. Doch ich höre nur den Wind in den Ästen, das unheimliche Knacken, dass immer durch die hohen Laubwälder zu hallen scheint und das ferne Rufen eines Käuzchens.
Jetzt wird mir doch kalt. Ich beeile mich, weiter zu laufen. Mir ist lieber, wenn ich Dimitri schnell finde.
Tatsächlich sehe ich seine gelbe Jacke aufblitzen und renne wieder los. Ungeschickt springe ich über Äste in meinen Weg, rutsche auf weicher Erde und reiße mich von sehr anhänglichen Sträuchern los.
„Dimitri!“, atemlos stolpere ich auf eine Art Lichtung, auf der Dimitri wie angewurzelt steht. Ich erreiche ihn und fasse seine Schulter.
„Dimitri, was ist denn jetzt schon wieder? Du sollst doch nicht einfach so wegrennen!“
Ich unterbreche meine Schimpftirade, als Dimitri den Kopf hebt und mich mit einem so ängstlichen und entsetzten Blick ansieht, dass mir das Herz fast stehen bleibt.
„Demia … !“, stammelt er, unfähig, in genaue Worte zu fassen, was er mir sagen will.
Doch ich bemerke auch so, was das Problem ist. Wir stehen nicht etwa auf Waldboden, sondern auf morschem Holz – offenbar auf dem Dach einer Hütte, die mit der Zeit im Waldboden versunken ist. Ich klammere mich so fest in Dimitris Schulter, dass es ihm weh tun muss. Aber in seinem bleichen Gesicht unter den roten Haaren steht nichts als Angst.
Das Holz knackt. Im nächsten Moment bricht das Dach ein und wir fallen kreischend in die Tiefe.
Die Wolke aus Staub und Erde legt sich nur langsam. Ich spucke Dreck aus, der mir in den Mund geraten ist: „Mitja? Bist du hier? Geht’s dir gut?“
„Demia … ich bin hier.“
Ich höre Dimitri husten. Wir sind erschreckend tief gefallen. Durch das Einsturzloch hoch über uns dringt blasses Mondlicht herein. Das Loch ist fast so weit entfernt wie der helle Himmelskörper.
Als ich in die Richtung kriechen will, aus der Dimitris Stimme kommt, durchzucken brennende Schmerzen mein linkes Bein. Ich unterdrücke einen Schrei, aber Dimitri hört es natürlich trotzdem.
„Demia? Ist alles in Ordnung?“, seine Stimme zittert.
„Alles – alles gut“, beschwichtige ich ihn und taste mein Bein ab. „Ich – ich glaube, mein Bein ist gebrochen.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht vor Angst und Schmerz zu weinen. Leises Rascheln kündigt an, dass Dimitri zu mir kriecht. Ich spüre seine Hand an meinem Arm.
„Demia? Ich habe Angst.“
„Na hoffentlich!“, fauche ich ihn an und höre, wie er zurück schreckt: „Wir sind ja auch nur deinetwegen hier! Wenn du nicht immer abhauen würdest –“, ich breche entsetzt ab. So viel Angst – und Recht – ich auch habe, es bringt uns nichts, wenn wir uns jetzt zerstreiten.
„Sorry, Mitja“, sage ich kleinlaut: „Mein Bein tut weh. Und ich habe auch Angst. Aber sie werden uns suchen. Du wirst sehen, spätestens Morgen früh findet uns jemand und holt uns hier raus.“
Dimitri kommt zu mir gekrochen und kuschelt sich an meine Seite. Ich schlinge einen Arm um ihn. Er zittert und seine Schultern beben, als würde er lautlos weinen. Ich drücke ihn an mich und kämpfe selber gegen die Tränen.
„Heißt das, wir müssen die ganze Nacht hier bleiben?“, fragt Dimitri mich leise.
„Nur im schlimmsten Fall“, antworte ich und versuche, nicht daran zu denken, wie verflucht groß die Wälder um das Waisenhaus sind. „Es sind ja nur ein paar Stunden.“