Demetia – 21. September
„Mitja?“
Ich wecke meinen Bruder, indem ich sanft an seiner Schulter rüttele: „Es ist schon hell.“
Dimitri streckt sich und sieht mich dann an.
Ich helfe ihm auf.
„Was tun wir jetzt?“, frage ich. Mir ist noch schwindelig von den Dingen, die ich gestern erfahren habe.
Dimitri zeigt mir ein schiefes Lächeln, das andeutet, dass er keine Ahnung hat: „Die Welt retten, denke ich.“
Ich muss lachen: „Wo fangen wir an?“
Dimitri klopft Erde von einer knallgelben Jacke. Dann hakt er sich plötzlich bei mir unter und beginnt, durch den Wald zu wandern. Seit er in der Erde war, ist er wie ausgewechselt. Vielleicht hätte ich ihn, als er ein Kind war, öfter mal in der Erde vergraben sollen?
„Wir können damit anfangen, dass wir dem Waisenhaus Hilfe schicken.“
„Weißt du denn, wo die Stadt ist?“, frage ich erstaunt.
Dimitri grinst: „Ich kann es herausfinden. Weißt du, was das tolle an Stein ist? Er kann sich an vieles erinnern. Und manche Spuren bleiben ewig.“
Ich furche die Stirn: „Was bedeutet das denn jetzt?“
Dimitri schenk mit einen gespielt strengen Blick, als würde ich mich dümmer stellen, als ich bin.
„Steine können Spuren bewahren. Wie Fossilien. Und die Erde erinnert sich an die Schritte, die über ihre Oberfläche gingen. Je tiefer die Schritte, desto länger die Erinnerung. Aber Anuschka und Max sind erst vor wenigen Tagen hier her gegangen. Ich kann ihm folgen.“
Ich muss lachen: „Du kannst wirklich die Spuren von Menschen verfolgen, die vor ein paar Tagen hierher gekommen sind?“
„Sie sind sehr schwach“, sagt Dimitri ernst. „Aber ich kann sie noch sehen. Komm jetzt.“
Er zieht mich mit sich.
Ich lasse es geschehen.
„Mitja?“, frage ich etwa einen Kilometer später.
„Ja?“
„Es tut mir leid.“
Er dreht den Kopf zu mir: „Was meinst du?“
Ich verziehe das Gesicht: „Es tut mir leid, dass ich dich im Stich gelassen habe, Dummkopf. Ich hatte nur Augen für die anderen und bin dir bewusst aus dem Weg gegangen.“
Dimitri winkt ab: „Ist doch halb so schlimm.“
„Nein, eben nicht“, bestehe ich. „Du warst verwirrt, verletzt und voller Angst. Und ich war nicht für dich da, als du mich gebraucht hast, weil … weil ich auch Angst hatte.“
Jetzt ist sein Blick seltsam: „Angst vor mir?“
„Nein. Angst vor deinen Fragen. Warum du so lange bewusstlos warst, als das Erdbeben stattgefunden hatte.“
Dimitri wird langsamer. Ich amte tief durch. Ich muss es ihm sagen.
„Du warst tot“, flüstere ich leise: „Das Beben hat deine ganze Kraft verbraucht.“
Dimitri sieht mich mit offenem Mund an. Jetzt bin ich diejenige, die schief lächelt: „Ich habe dich gerettet, indem ich dir meine Energie gegeben habe. Ich hatte Angst, dass dir das Angst machen könnte. Aber jetzt weiß ich, dass du schon viel zu viel Angst hattest. Und dass es dich beruhigt hätte, zu wissen, dass du keine größere Katastrophe mehr auslösen könntest.“
Dimitri lacht einfach los. Fassungslos sehe ich ihn an: „Was?“
„Die ganze Zeit habe ich mich mit der Schuld herum geplagt und dachte, du hättest Angst vor mir – dabei empfandest du die gleiche Schuld und die gleiche Angst um mich.“ Er schüttelt den Kopf: „Wir sind uns zu ähnlich, Demia.“
Ich grinse: „Wir sind Zwillinge, Mitja. Gewöhn' dich daran.“