Demetia – 21. August
Schon bevor wie das große Tor durchschritten haben, durch das die Auffahrt zu dem alten Klostergebäude führt, kommt uns eine Frau in langen, schwarzen Gewändern entgegen. Mutter Marija streckt uns beide Hände fast flehend entgegen: „Demetia! Dimitri! Es geht euch gut, Gott sei gedankt! Wo wart ihr nur, wir haben uns solche Sorgen gemacht!“
Die Nonne zieht uns in eine feste Umarmung. Über ihre Schultern kann ich Dimitri einen warnenden Blick zuwerfen. „Kein Wort!“, forme ich lautlos mit meinen Lippen.
Dimitri nickt ein wenig genervt. Wir haben alles schon im Wald besprochen.
Mutter Marija schiebt uns mit ausgestrecktem Arm von sich: „Was ist nur geschehen? Ihr seid ja ganz dreckig!“
„Wir sind im Wald in eine Grube gefallen“, sage ich ruhig. Dimitris Blick hängt an mir. Mutter Marija schlägt die Hände vor dem Mund zusammen: „Geht es euch gut? Seid ihr verletzt? Wir haben überall gesucht, die Meisten sind noch unterwegs!“
„Uns geht es gut“, sage ich: „Wir haben uns auch nicht verletzt, aber wir brauchten eine Weile um wieder nach oben zu klettern.“
„Ach, Gottchen!“, ruft die Nonne aus und zieht uns an den Schultern mit sich: „Wir werden direkt mal dafür sorgen, dass ihr was zu essen bekommt, und dann dürft ihr duschen und ins Bett. Ihr Armen müsst ja vollkommen fertig sein!“
Wir lassen uns schweigend mitziehen. Im Gehen werfe ich Dimitri einen Blick zu. Er grinst breit über die gelungene Lüge.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, Mutter Marija und später auch alle anderen Nonnen und Waisenkinder zu belügen. Auch, wenn es keine richtige Lüge ist, wir verschweigen nur ein paar entscheidende Fakten. Wir dürfen früh ins Bett, als Mutter Irina merkt, dass wir vor Erschöpfung kaum noch reden können. Im Bett liege ich noch lange wach, egal wie müde ich vorher war.
Was ist in der Grube nur geschehen? Ich erinnere mich, in eine Art Trance gefallen zu sein, in der ich eine Art Vision hatte – oder Audision, ich habe nämlich nur eine Stimme gehört. Und die sagte mir etwas von einer Aufgabe, die ich zu erfüllen hätte. Dann erklärte sie mir, wie ich mich heilen könnte.
Kann das wirklich geschehen sein? Oder habe ich mir meine Verletzung und den Traum am Ende nur eingebildet? Ich kann es nicht mehr sagen – was ich bräuchte, wäre die Möglichkeit, das heimlich zu testen.
Ich bemerke, wie Dimitri sich im Bett neben mir umdreht. Die Vorhänge sind zwar zugezogen, doch draußen scheint noch die Sonne, sodass wir in braun-goldenem Dämmerlicht liegen. Ich sehe in seinem Gesicht, wie er überlegt, dann fragt er: „Denkst du auch, was ich denke?“
Ich atme tief durch: „Was denkst du denn?“
„Dass wir herausfinden müssen, was da passiert ist“, sagt er ohne Umschweife. So schüchtern er mit den ins Gesicht gekämmten, roten Haaren auch aussieht, so forsch kann er manchmal sein. „Und zwar, indem wir ausprobieren, ob wir irgendwelche Fähigkeiten haben.“
Ich nicke. „Genau das habe ich auch gedacht“, antworte ich ihm flüsternd.
Dimitri rutscht so in seinem Bett nach vorne, dass er ein Stück näher kommt, und flüstert: „Alles, was wir brauchen, ist eine Möglichkeit, sich heimlich wegzuschleichen.“
Ich überlege. „Vielleicht könnte ich so tun, als wäre ich krank“, schlage ich vor. „Und du auch. Dann müssen wir nicht arbeiten und können vielleicht mal einen Spaziergang oder so in den Wald machen, wo uns keiner sieht.“
Dimitri verzieht das Gesicht: „Aber dann müssen wir erst mehrere Tage im Bett bleiben.“
Ich nicke: „Ich möchte auch ungern direkt morgen anfangen, wenn du verstehst.“
Er nickt und rollt sich auf die andere Seite. „Schnupfen?“, fragt er.
„Und Husten“, antworte ich, erleichtert, dass er mitspielen will.
Dann liegen wir schweigend im Zwielicht. Ich seufze innerlich. Jetzt will ich die Nonnen, die uns aufgenommen haben, schon wieder belügen. Dabei war ich, bevor diese seltsame Fähigkeit auftauchte, ein ganz normales, liebes Mädchen.
Nun, wenn ich die Kraft verstanden habe, kann ja alles wie vorher werden.