7. Dezember, Aidens Geburtstag
Die Tür öffnet sich vor mir. Licht fällt in den düsteren Flur.
„Alles Gute zum Geburtstag, Aiden!“, rufen mir alle Bewohner des Waisenhaues entgegen, Kinder wie Erzieherinnen. Ich grinse und trete in den hell erleuchteten Speisesaal. Alle sind versammelt. Es ist Abend. Statt des üblichen Eintopf steht Kuchen auf dem Tisch. An meinem Platz stehen drei Päckchen in grauem Geschenkpapier. Es kommt mir so vor, als wären sogar die Schleifen genau die gleichen wie jedes Mal, wenn einer von uns Achtzehn wird. Aber es ist lange her, dass der letzte Junge von uns auf diese Weise gehen musste. Viele von denen, die noch hier sind, werden einmal adoptiert werden. Jakob vielleicht nicht mehr, denn er ist bereits zu alt. Und Patrick wird vielleicht das nächste Sorgenkind.
Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund, als ich mich an meinen Platz setze, um die Geschenke als erstes zu öffnen. Eine Erzieherin meinte einmal zu mir, normale Jungen müssten erst den Kuchen anschneiden, bevor sie Geschenke öffnen. Ich weiß nicht, inwieweit das der Wahrheit entspricht. Vielleicht ist sie damit groß geworden.
Doch hier ist es eben andersherum Tradition. Was in den Geschenken ist, wissen wir sowieso bereits, außer die Jüngsten. Geld, eine schicke Jacke, die ein wenig zu groß ist und ein Ticket für den Bus, der in der nächsten Siedlung abfährt. Das alles sagt uns, dass unsere Zeit hier zu Ende ist. Wir haben noch ein paar Tage, manchmal eine Woche, um Abschied zu nehmen. Dann wird unser Zimmer frei und ein anderer Junge nimmt den leeren Platz ein.
Ich setze mich und öffne die Pakete. Ich bedanke mich bei Frau Jäger und nochmal bei allen anderen. Ich grinse die ganze Zeit, bis meine Mundwinkel schmerzen, und auch dann noch grinse ich weiter. Manchmal fürchte ich, dass mir vor lauter Schmerzen Tränen über die Wangen laufen und ich dann wie ein weinender Hai aussehe. Doch ich habe jahrelange Übung. Frau Jäger bringt den Kuchen.
Auch den Kuchen kenne ich. Jedes Jahr der Gleiche – oder vielleicht auch der Selbe. Ein trockener Nusskuchen. Dazu gibt es selbstgemachte Schlagsahne, die jedes Mal, jedes verdammte Mal, zu wenig und zu sauer ist.
Ich sehe die weiße Kerze, die auf dem Kuchen steht. Mein Name ist in dunklen Zeichen an der Seite in das Wachs geritzt, so, wie ich die Kerze auch das letzte Mal gesehen habe. Meine Finger beginnen zu vibrieren. Ich nehme den Docht wahr und die Brennflüssigkeit im Feuerzeug. Ich fühle mich unglaublich lebendig, so, als wäre ich ganz weit weg. Und gleichzeitig ist da dieses tote Gefühl angesichts der Feier. Es zerreißt mich förmlich in der Mitte. Ich fahre mir durch die Haare.
Heute morgen, beim Rasieren, habe ich es bemerkt, als ich den Blick in den Spiegel gehoben habe. Meine Haare sind nicht mehr pechschwarz wie Kohle. Jetzt erscheinen sie braun, wenn auch nur ganz leicht. Manche Strähnen sind noch schwarz, andere rötlich-braun. Auch meine Augen sind ein wenig heller.
Ich wusste ja, dass manche Menschen ihr Aussehen während ihres Lebens verändern, aber dass es innerhalb weniger Tage geschehen sollte, ist mir neu.
Kerze und Kuchen stehen vor mir. Frau Jäger macht Anstalten, mir das Feuerzeug zu übergeben. Ich bin bereit. Langsam, ausatmend, strecke ich mein Bewusstsein nach all den Menschen im Raum aus. Manche der Kinder sind noch geschwächt von der Nacht, als ich den Baum entzündete. Sie sind krank und zittern, ohne Schutz vor der Kälte. Ich spüre ihre Energie, nehme alles in mich auf, als ich einatme.
Diesmal sammele ich die Hitze nicht in meinen Fingern, sondern in meiner Brust. Ich warte auf den einen Funken.
Fenia tritt vor. „Soll ich dir helfen, Aiden?“, fragt sie charmant lächelnd.
Ich schüttele den Kopf. Diesmal sehe ich sie misstrauisch an. Mein Lächeln entspannt sich ein wenig. Bald kann ich die Maske fallen lassen.
„Ich schaffe das schon, danke, Fenia“, sage ich zuckersüß. Sie nickt, aber ich bemerke, wie sie einen Schritt rückwärts macht. Das wird ihr nichts nutzen. Beständig fließt Energie in meinen Körper.
Sie wirft Frau Jäger einen bedeutungsvollen Blick zu, eine stumme Warnung. Sie haben gesprochen. Fenia ahnt etwas. Doch Frau Jäger ignoriert Fenia mit der ihr eigenen Engstirnigkeit. Sie reicht mir das Feuerzeug. Ich lege den Daumen an die Stelle, ab der ich das Feuerzeug nur noch nach unten ziehen muss.
Ich habe noch ein zweites Feuerzeug bei mir, in meiner Hosentasche. Ich zögere noch einen Moment und streife mir dann dramatisch meine neue, schwarze Jacke über. Es ist mehr ein Mantel als eine Jacke, mit hohem Kragen und tiefen Taschen, an der Hüfte etwas schlanker geschnitten. Ich sehe, dass Fenias Blick tatsächlich zur Tür fliegt.
Sie weiß Bescheid. Ob sie wirklich alles weiß oder nur ahnt, dass etwas Schreckliches passieren wird, kann ich nicht sagen. Es kümmert mich nicht.
Ich spüre alles um mich. Alles Brennbare. Ich bin Feuer. Ich will.
Niemand hat mich je geliebt. Meine Eltern nicht und auch keiner in diesem Haus. Mir war kalt, so viele Jahre lang. Noch immer zittere ich in der Erinnerung.
Das ist jetzt vorbei.
Und dann zünde ich das Streichholz an.