Demetia – 5. September
Die Zeit vergeht wie im Alptraum. Wir haben an dem alten Funkmast einen Notruf losgeschickt, doch es kam keine Antwort. Vielleicht ist die Verbindung irgendwo unterbrochen, durch einen Sturm oder einen umgestürzten Baum.
Wir sind auf uns allein gestellt. Uns umgeben nur die schweigenden Wälder, in denen nachts die Wölfe heulen. Es ist lange her, dass sie sich so nah an das alte Gebäude gewagt haben.
Das Erdbeben hat schreckliche Spuren hinterlassen. Gesplittertes Holz und gefallene Bäume, so weit das Auge blickt, das Waisenhaus ist ein Trümmerfeld, die Stallungen nicht mehr als Feuerholz. Die Tiere von unserem kleinen Bauernhof – sofern sie überlebt haben – müssen draußen in Kälte und Regen ausharren, während sich Nonnen und Kinder in das alte Kloster zurückgezogen haben. Das Steingebäude halt als einziges das Beben überstanden.
Dimitri ist am Boden zerstört. Er schweigt viel und isst kaum. Meist wandert er irgendwo in den Wald hinaus, tritt wütend gegen Baumstämme oder Erdhügel und verflucht vermutlich seine Kraft. Ich habe versucht, ihm zu folgen, doch er blockt mich ab. Also bleibe ich, wie auch in den Wochen nach dem Unglück, hier beim Haus. Ich kann ihm nicht mehr in die Augen sehen, ohne ihm Vorwürfe zu machen. Ich will glauben, dass es nicht seine Schuld ist, was passiert … aber es war doch seine Kraft, die das hier angerichtet hat.
Ich helfe den Verletzten. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Sogar jetzt sitzen noch eine Handvoll Kinder im Keller fest. Wir mussten erst einen Weg zu ihnen graben und diesen schmalen Tunnel dann abstützen. Jetzt klettert immer ein Erwachsener nach unten, von einem Seil gehalten, und Kind für Kind bringen wir die Gefangenen ans Tageslicht.
Gleichzeitig müssen wir für Schutz sorgen. Es steht nur noch das alte Kloster, das wohl für die Ewigkeit gebaut wurde. Die Reste des Waisenhauses sind einsturzgefährdet, also darf sich dort niemand aufhalten. Wir haben die löchrigen Wände des Klosters mit Erde verklebt und Decken auf dem Boden ausgebreitet. Mutter Marija macht jeden Abend ein Lagerfeuer an.
Ich habe mir aus einer alten Suppenschüssel einen Helm gebastelt und unternehme immer wieder kurze Ausflüge ins Waisenhaus. Ich hole Vorräte, Decken, Verbandszeug. Alles ist noch in dem Haus, aber seltsamerweise habe ich keine Angst, dort eingeschlossen zu werden.
Ich habe nicht Dimitris Kraft, die Erde zu bewegen. Aber ich weiß, er wird kommen und mich retten, ob er die Kontrolle hat oder nicht. Das gibt mir den Mut, jedes Mal aufs Neue mein Leben zu riskieren.
Ich helfe noch auf eine andere Weise. Nachts, wenn alle schlafen. Dann schleiche ich zu den Verwundeten und heile sie.
Ich kann ihre Wunden schließen und Knochen zusammenwachsen lassen. Es kostet viel Kraft und ich sorge dafür, dass man mein Eingreifen kaum bemerkt. Der Schlafmangel und die kräftezehrende, heimliche Arbeit machen mich müde. Aber Gestern konnte ein kleines Mädchen zum ersten Mal wieder gehen und der Anblick ihres lächelnden Gesichts hat mich für alle Mühen bezahlt.
Jetzt sitze ich auf meinem alten Lieblingsplatz im Garten des Hauses. Auch hier hat das Erdbeben seine Spuren hinterlassen. Die Erde ist aufgerissen. Ein gewaltiger Baum auf die ehemalige Küche gestürzt und überall sind Stücke der Rinde, Dachziegel und Glasscherben verteilt.
Trotzdem sitze ich hier gerne. Und gestern habe ich das größte Wunder von allen erlebt: Eine wachsende Pflanze.
Irgendeine junge, weiße Blume hat in all der Zerstörung ihre Wurzeln geschlagen, kaum einen Fingerbreit von der Stelle, wo ich sitze.
Ich glaube, die Pflanze heißt Trauerglocke. Ich habe noch nie gesehen, dass welche so spät im Jahr blühen. Die Blume sieht aus wie ein Maiglöckchen, ist jedoch blasser und hat eine Körperhaltung, die sich nur als traurig bezeichnen lässt. Daneben wächst eine violette Königskerze, eine große Staude mit leuchtenden Blüten.
Ich sehe diese Pflanzen als ein kleines Wunder an, als Zeichen der Hoffnung. Oder, was vielleicht noch mehr stimmt, als Ausdruck meiner Fähigkeit.
Während Dimitri die Erde beherrscht, berührt meine Macht alles, was wächst.