Dimitri – 15. Oktober
Durch das Fenster können wir in ein kleines Zimmer sehen, wo eine junge Frau über mehrere Bücher gestützt sitzt und lernt. Sie hat braune Haare, blasse Haut, die zu lange kein Sonnenlicht gesehen hat, und dunkle Ringe unter ihren Augen.
In unserem Versteck zwischen altem Laub und Erdhügeln im ungepflegten Vorgarten sind wir nicht zu entdecken.
Das ist also das Mädchen, dass das Feuer beherrscht. Noch weiß sie nichts von ihrer Macht. Aber ich sehe die Flammen in ihrer Seele sitzen und warten.
„Demetia. Das ist sie“, flüstere ich.
„Sehr gut, Mitja. Aber was tun wir jetzt?“
Wir haben uns in Zügen vor Schaffnern versteckt und sind des Nachts über die Grenze geschlichen (eigentlich eher unter der Grenze hindurch – spielt ja auch keine Rolle), aber nie haben wir genau darüber nachgedacht, was wir hier zu tun gedenken, wenn wir erst einmal da sind. Ich betrachte das Mädchen genauer. Sie scheint sehr verzweifelt zu sein und sie ist klar übermüdet. Irgendetwas sehr Wichtiges hängt davon ab, dass sie alles lernt, was sie aus den Büchern erfahren kann.
„Wir sollten ihr ein Zeichen geben“, schlage ich vor.
Demetia grinst, denn sie hat schon eine Idee. Während wir in einem großen Haufen Blätter fast bewegungslos sitzen und beobachten, streckt Demetia eine Hand aus – und lässt eine Blume wachsen.
Es ist eine Sonnenblume, die direkt unter dem Fenster des Feuermädchens wächst. Als die große Blüte plötzlich das Fenster verdunkelt, springt das Mädchen auf.
Und gerät in Panik. Schreiend stolpert sie von dem Fenster zurück. Dabei stößt sie eine Kerze um, die auf dem Schreibtisch gebrannt hat. Sofort gehen ihre Papiere, auf denen sie sich Notizen gemacht hat, in Flammen auf.
„Demia, was tust du?“, rufe ich erschrocken. Wir springen auf.
„Nein!“, flucht meine Schwester. „Das war nicht so geplant.“
„Natürlich nicht“, dränge ich. „Wir müssen etwas tun!“
Wir rennen zur Haustür und schlagen dagegen, in dem Versuch, die Tür einzutreten. Doch ich werde abgelenkt, dadurch, dass ich in das Fenster sehen.
Das Mädchen versucht verzweifelt, ihre Notizen zu retten. Ich erhasche einen Blick auf ihr Buch – sie lernt Pädagogik, offenbar in der Absicht, Lehrerin oder Erzieherin zu werden. Ich sehe sogar die Postkarte eines dänischen Waisenhauses.
Mit bloßen Fingern reißt das Mädchen die brennenden Blätter an sich – und die Flammen erlöschen.
Ich packe Demetia am Arm: „Da!“
Sie folgt meinem Blick.
Mit weit aufgerissenen Augen starrt das Mädchen auf die Notizen, die nur angesengt sind. Sie reißt sich zusammen und nimmt auch die anderen Blätter auf. Wieder verschwindet das Feuer.
Das Mädchen drückt die Blätter an ihre Brust und weint Tränen der Erleichterung. Sie sinkt auf die Knie.
Das Feuermädchen sieht sich verständnislos in dem Raum um. Sie fragt sie, ob das gerade wirklich passiert ist. Dann legt sie die Blätter zur Seite und bewegt testweise ihre Hand.
Mit offenem Mund starrt sie auf die Flammen, die von ihren Fingern aufsteigen, verlöschen und aufsteigen, wie sie es will.
Demetia neben mir grinst: „Genau das wollte ich! Vertrau mir doch mal, kleiner Bruder!“
Ich schüttele nur den Kopf und verdrehe die Augen.
Aber schön, das Feuer ist gelöscht und wir haben nicht aus Versehen das Kind des Feuers umgebracht.
Eigentlich ein sehr guter Tag.