11. September
Ich bin an die Mafia geraten! Natürlich lassen die mich nicht gehen.
Ich werde an den Tisch gesetzt, der Karton zur Seite geschoben. Man stellt eine Schüssel mit Müsli vor mich.
„Wie heißt du, Junge?“, fragt mich einer der Männer. Der, der freundlich mit mir spricht.
Ich lüge: „Dorian.“
„Wie im „Bildnis des Dorian Gray“?“, fragt mich der Mann. Ich nicke langsam. Genau daran hatte ich gedacht, als ich meinen Namen ausgewählt hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass Dealer nicht so belesen sind.
Der Mann reicht mir die Hand: „Ich heiße Jens. Das da ist Björn.“ Er deutet auf den Größten, der mit dunklen Haaren und verschränkten Armen unser Gespräch verfolgt.
„Und unser Anführer ist Wolfgang“, sagt Jens. Wolfgang ist klein und dürr. Aber ich sehe, dass seine Arme erschreckend stark sind.
Ich schweige nachdenklich.
„Tja, Junge. Tut mir leid, dass wir dich nicht gehen lassen können“, sagt Jens. „Aber das ist kein Problem. Ich meine, du kriegst Geld, ein Dach überm Kopf, Essen. Du siehst aus, als wärst du bald 18. Damit wärst du besser dran als die meisten in deinem Alter. Und deinen Eltern könnten wir eine Botschaft zukommen lassen. Dass es dir gut geht.“
Ich schüttele den Kopf: „Nicht nötig. Meine Eltern … werden sich keine Sorgen machen.“
Ich schweige, aber offenbar akzeptiert man hier, dass jeder seine Geheimnisse hat.
„Ich möchte gerne Sam sehen“, sage ich.
Jens nickt: „Ich zeig ihn dir. Aber ich komme mit.“
„Ja“, sage ich, schiebe das Müsli von mir, ohne einen Bissen gegessen zu haben, und stehe auf.
Wir müssen ein uraltes Treppenhaus hinab. Die Wände sind feucht und schimmelig. Die Luft riecht muffig. Die ganze Zeit drehen sich die Gedanken in meinem Kopf im Kreis.
Ich habe auf dem Küchentisch eine Zeitung gesehen. Der Überfall ist erst wenige Tage her. Ich verstehe nicht, wieso ich laufen kann. Und wieso ich überhaupt noch lebe.
Aber schlimmer noch: Anton war bei seiner Arbeit der Drogenmafia auf den Spuren. Das heißt, die Leute, die Anton und Natalie umgebracht haben, arbeiten mit Jens, Björn und Wolfgang zusammen. Und ich arbeite jetzt ebenfalls mit den Mördern meiner Adoptiveltern zusammen.
Ich fühle mich wie ein Verräter an allem, woran Natalie geglaubt und wofür Anton gekämpft hat. Wofür sie gestorben sind. Tränen wollen mir bei dem Gedanken in die Augen schießen. Meine Eltern sind tot! Wie konnte es nur dazu kommen?
Wir sind scheinbar sehr weit oben gewesen, denn der Abstieg hört überhaupt nicht mehr auf. Als ich endlich durch eine braune Holztür nach draußen trete, ist es beinahe Mittag.
Ich stehe in einer dreckigen Gasse. Eine Sackgasse, offenbar fernab der Straße. Ein großer Metallzwinger steht an einer mit Graffiti beschmierten Wand, und darin sitzt mein Sam, dürr und ausgehungert, aber mit den gleichen, hellen Augen.
Neben ihm steht eine Schüssel voller Futter, die er nicht angerührt hat. Als er mich erkennt, springt er auf und wedelt mit dem Schwanz. Dann hört er damit auf, als er Jens sieht und knurrt stattdessen, um dann bellend gegen das Gitter zu springen.
„Teufel von einem Hund“, lobt Jens.
Ich bin wie erstarrt. Sonst ist Sam ein wirklich, wirklich liebes Tier. Er knurrt kaum noch, nur wenn er Regenschirme sieht oder etwas anderes, was ihn an seine Vergangenheit erinnert. Jens hat keinen Regenschirm – warum rastet Sam so aus? Und nach Jens' Worten zu urteilen, tut Sam das jedes Mal, wenn er den Mann sieht.
Es gibt nur eine Erklärung und die jagt mir einen Schauer über den Rücken. Sam ist zahm, außer, wenn sein Beschützerinstinkt geweckt wird.
Er will mich schützen, weil Jens in seinen Augen eine Gefahr ist. Ich denke an die Waffen, die ich gesehen habe, verknüpfe alle Informationen zu einem schrecklichen Netz.
Sam erkennt Jens' Geruch und verbindet ihn mit etwas Schrecklichem. Und das bedeutet, dass Jens zu den Mördern meiner Eltern gehört.