24. September
Der aufziehende Sturm hat Jens überrascht. Hier draußen, an den Bergen, kann das Wetter schnell umschlagen. Er wirfst das Messer nach mir, doch Schatten springen hervor und lenken die Klinge ab.
Sie fliegt durch die Luft und trifft den Baumstamm, an den Sam gebunden ist. Dummerweise treffe ich den Strick nicht, und so bleibt Sam gefesselt.
Doch er hört auf, wie wahnsinnig an dem Strick zu ziehen, als ich mit einem Schlag die Fesseln um meine Beine löse und langsam aufstehe.
Jens sieht mich an: „Deine Macht wird dir nichts nützen! Du wirst mich töten, aber ich werde dich mitnehmen in die Nacht! Dorthin, wo du hingehörst, du Bastard!“
Er hat keine Waffe mehr, aber er sammelt Schatten um seine Gestalt. Das ist also die Kraft des Zwielichts. Er ist keiner der Sieben. Er ist nur ein Mann, der sehr ehrgeizig war.
Jeder Mensch kann diese Kraft erlernen? Ich mache drei Schritte auf ihn zu. Er greift an, aber ich blockiere seine Welle aus Schatten mühelos mit einer Wand aus vollkommener Schwärze.
„Jetzt stirbst du“, sage ich und meine Stimme hallt zwischen den hohen Baumstämmen wider, unnatürlich dunkel und tief.
Ich schleudere Jens meine Macht entgegen, reiße ihn von den Beinen und fessele ihn an den Erdboden, wo er sich verzweifelt windet.
„Na los!“, ruft er auffordernd: „Worauf wartest du noch? Bring es hinter dich – töte mich!“
Ich halte inne. War es nicht genau das, was ich verhindern wollte? Ich wollte kein Mörder sein!
Ich stolpere zurück, entsetzt von dem, was ich beinahe getan hätte. Jens sieht mich schwer atmend an: „Tu es einfach. Ich will nicht leben.“
„Ich kann nicht“, sage ich leise: „Das habe ich nicht zu entscheiden.“
Ich sehe etwas, dass nur ich sehen kann. Einen dritten Schatten auf der Lichtung, außer mir und Jens. Eine dritte Macht in diesem Kampf – mein wirklicher Feind.
Es ist jemand ohne Körper, doch mit brennenden, farblosen Augen. Er beobachtet mich. Hungrig. Lauernd.
Er spielt mit meinen Gefühlen wie eine Katze mit einer toten Maus. Doch jetzt, wo ich ihn erkannt habe, verschwindet seine Macht über mich.
Er hat meinen Zorn angestachelt. Hat mich wütend und wahnsinnig werden lassen. Er hat auch meine Hand geführt, als ich Wolfgang und Björn getötet habe.
Nicht, dass ich die Schuld von mir weisen würde. Es war immer noch meine Hand. Doch mein Wille war von einer anderen Macht besessen, die das gestärkt hat, was ihr zu Stärke verhilft.
„Verschwinde“, sage ich zu der Gestalt. Ich sehe sogar, dass sie Jens im Griff hat, ein dünner, schwarzer Faden wie eine Nabelschnur verbindet sie.
„Was auch immer du bist, verzieh dich!“, schreie ich das Monster an. Es zwinkert mir zu, als wolle es sagen: „Ich komme wieder.“
Dann geht es tatsächlich.
Ich atme erleichtert auf und gehe zum Baum, um Sam loszubinden. Überglücklich leckt er mir über das Gesicht. Ich sehe zu Jens, der immer noch auf dem Boden liegt und lockere seine Fesseln ein Stück.
„Es tut mir leid“, sage ich zu ihm: „Ich wollte niemals jemanden töten. Ich weiß, du kannst mir nicht verzeihen, doch wenn es irgendeinen Weg gibt, wie ich meine Schuld abtragen kann – sag es mir.“
Jens weint jetzt. Der Schatten und dessen unheimliche Macht sind von ihm gewichen. Er murmelt leise: „Wolfgang und Björn – wir sind zusammen aufgewachsen. Wir kennen uns seit Jahren, und wir haben so viel zusammen durchgemacht. Wir sind gemeinsam auf die schiefe Bahn geraten, und um der anderen willen dort geblieben.“
Jens bewegt sich und greift in seine hintere Hosentasche, die er dank der gelockerten Fesseln jetzt erreichen kann. Ich erwarte, dass er ein Bild heraus zieht, oder ein anderes Andenken: „Ich möchte ohne sie nicht leben.“
Zu spät erkenne ich die Wahrheit, die das Zwielicht vor mir verbarg. Jens zieht eine Pistole. Und schneller, als ich reagieren kann, drückt er ab.
Bevor ich etwas tun kann, trifft die Kugel. Doch sie trifft nicht mich.