4. Dezember
Ich warte mit angehaltenem Atem im Schatten. Die Wand der Holzhütte ist meine einzige Deckung – die Wand und der davor angehäufte Berg aus Schnee, den der Wind der letzten Tage angeweht hat.
Shiriki und seine Freunde sitzen auf den Holzbänken auf dem Platz, den die fünf Hütten umstehen. Sie trinken irgendein billiges Bier und machen dreckige Witze. Es ist Abend. Die Sonne geht hinter dem Wald unter, der Himmel ist leuchtend orange.
„Und diese Glacie? Das war geil, oder? Die hat geflennt wie ein Baby!“, ruft einer der Jungen. Ich bin nah genug, um jedes Wort zu verstehen.
„Halt die Klappe“, brummt Shiriki den Jungen an: „Sie ist erst 13.“
„Aber es war lustig, oder?“
„Ja“, sagt Shiriki und zerstört damit das letzte bisschen Hoffnung, dass ich jemals wieder mit ihm reden werde: „Aber jetzt ist gut. Wir sind zusammen aufgewachsen, klar?“
„Schon gut“, winkt der Junge ab und trinkt einen weiteren großen Schluck.
Ja, Shiriki. Wir sind gemeinsam groß geworden. Du warst mein großer Bruder, mein Beschützer. Mein strahlender Ritter. Wie konntest du mir das antun?
Ich balle meine Hand zur Faust und sehe, wie ein feiner Film aus Eis sie überzieht. Jede dieser Taten kostet mich Kraft, als würde ich Sport machen. Aber je kälter meine Umgebung ist, desto leichter fällt es mir, Schnee zu rufen.
Ich atme tief durch und spüre die Kälte, die durch mich fährt.
Jetzt wird Shiriki bezahlen!
Ich stehe auf, als die Jungen in lautes Gelächter ausbrechen. Sie hören mich nicht kommen, bis ich zwei Meter von ihnen entfernt bin und Shiriki einen erschrockenen Schrei ausstößt.
„Glacia! Es ist viel zu kalt!“
Ja, ich trage nur Jeans und Hemd. Na und, was geht ihn das an?
Ich hebe eine Faust und schlage ihm mitten ins Gesicht. Wenn man unter Jungen groß wird, dann lernt man irgendwann, sich richtig zu prügeln. Seine Kumpanen werden still, als Shiriki sich die Wange reibt und aufsteht.
„Wir müssen noch was ausdiskutieren“, sage ich locker. Früher hätte ich Angst gehabt oder angefangen zu weinen. Doch irgendwas hat sich verändert. Ich habe mich verändert.
Shiriki schnaubt und spuckt auf den Boden. Ich sehe, wie er aus dem Augenwinkel kontrolliert, ob sein Speichel blutig ist, doch so stark war mein Schlag nicht.
„Wie du willst“, knurrt er und schiebt die Ärmel seiner dicken Jacke ein Stück hoch.
Seine Freunde bilden einen Halbkreis um uns. Es wäre demütigend für Shiriki, beim Kampf gegen einen einzelnen Gegner Hilfe zu benötigen – besonders gegen ein Mädchen. Sehr demütigend.
Ich lächele und warte auf seinen Angriff. Er stürzt auf mich zu und beugt sich vor, um meine Hüfte zu fassen. Er will mich auf den Rücken werfen, doch ich sehe seinen Plan voraus und drehe mich im Fallen, dass wir nebeneinander auf dem Boden aufkommen und nicht er über mir.
Blitzschnell rolle ich herum und setze mich auf seine Brust, um ihn mit meinen Fäusten zu bearbeiten. Er wirft mich von sich herunter, doch inzwischen blutet seine Lippe. Ich springe auf, die Fäuste erhoben und bereit. Mit einem wilden Kampfschrei stürmt Shiriki auf mich zu und schwingt einen Haken zu meinem Gesicht. Ich weiche diesmal nicht schnell genug aus und der Schlag lässt mich Sterne sehen. Ich schüttele den Kopf und blocke seinen nächsten Angriff. Diese Schläge zum Kopf setzen einen Gegner außer Gefecht, allerdings nur, wenn er damit keine Erfahrung hat. Ich blocke, erwische Shiriki unterm Kinn und trete ihm dann mit aller Kraft in die Weichteile, dass er vor mir auf die Knie sinkt.
„Du musst dich nicht gleich verbeugen“, spotte ich und ziehe seinen Kopf an seinen perfekt gestylten Haaren nach hinten. Ich sehe in seine dunkelbraunen Augen, die weit aufgerissen sind und spüre die Kälte an meinen Fingern.
Normalerweise bin ich nicht so stark. Immerhin ist Shiriki drei Jahre älter, größer und stärker als ich.
Aber mit Fäusten aus Eis sieht das Kräfteverhältnis schon anders aus.
Ich merke, dass meine Hände immer kälter werden, während ich in Shirikis Augen sehe und daran denke, wie er mich bloßgestellt hat.
Ich könnte ihn töten!, wird es mir plötzlich klar.
Ich könnte nicht nur. Ich würde ihn töten!
Ich lasse ihn los und stoße ihn in den Schnee. Erst jetzt merke ich, dass die Jungen um uns lauthals lachen. Aber sie lachen nicht über mich.
„Geile Aktion“, sagt mir einer. Zu dreien heben sie Shiriki auf: „Was meintest du noch, Shi? Sie ist erst 13?“