17. September
Ich gehe zu Sam und hebe den Zettel auf. Meine Finger zittern, als ich ihn entfalte. Mir ist eisig kalt und ich fühle mich so müde, als hätte ich drei Tage nicht geschlafen. In meinem Kopf ist alles voller Nebel. Was ist passiert? Habe ich wirklich Schatten beschworen? Wozu bin ich noch fähig?
Die eng gekitzelten Zeilen verschwimmen fast vor meinen Augen. Es ist eine Adresse.Nur langsam dringt durch die Watte in meinem Kopf, was das bedeutet.
Ein Auftrag. Jens, Wolfgang und Björn sollen zu der Adresse – um Drogen abzuholen oder Zeugen zu vernichten oder etwas ähnliches. Mir wird schwindelig.
Ich muss sie aufhalten. Sofort.
Taumelnd erhebe ich mich. Ich fühle mich, als hätte ich einen Dauerlauf hinter mir. Sam bellt erschrocken, als ich loslaufe. Er springt vor mich, will mich aufhalten. So, wie ein Hütehund die Herde zusammen hält. Ich kraule ihn, während ich weiter laufe: „Alles gut, Sam. Mir geht es gut.“
Ich halte ihm den Zettel vor die Nase: „Such, Sam. Such.“
Schwanzwedelnd läuft er vor mir her, die Nase dicht am Boden. Dann hat er die Spur gefunden und hetzt los. Ich renne hinter ihm her.
Die drei Mafiosi haben einen erstaunlichen Vorsprung. Jedenfalls Björn, dessen Spur wir folgen, scheint ein ganzes Stück gerannt zu sein. Schließlich hält Sam hinter einer Hecke an und ich hocke mich neben ihn. Auf der anderen Seite liegt die Straße, wo ein schwarzer Pickup parkt. Jens und Wolfgang kommen gerade keuchend an, Björn sitzt bereits im Wagen.
„Was war denn los?“, fragt Wolfgang.
„Geister“, flucht Björn: „Da waren irgendwelche Geister im Gestrüpp oder so, ich schwöre es!“ Björn ist leichenblass, und ich habe ihn nie zuvor einen derart langen Satz bilden gehört.
Jens zieht die Stirn in tiefe Furchen: „Geister?“
„Was auch immer es war – ich gehe nicht mehr in den Park!“, schimpft Björn. „Da geht was nicht mit rechten Dingen zu!“
„Hast du etwa Schiss?“, fragt Wolfgang genervt. Er und Jens steigen hinten in den Wagen.
Björn schließt die Tür. „Mit manchen Mächten sollte man sich nicht anlegen“, höre ich ihn noch sagen, dann startet er den Wagen und sie fahren los.
Ich fluche gedämpft. Wie soll ich dem Auto denn hinterher kommen? Ich sehe ihnen nach. Sie fahren einen altmodischen Pickup, vielleicht von 2000 oder 2050, irgendwo in der Zeitspanne. Das Nummernschild ist verblasst, aber so ein Wagen sollte nicht allzu schwer zu finden sein.
Ich trotte den Gangstern hinterher, aber sie verschwinden schnell außer Sicht.
Da fällt mir ein, dass ich ja die Adresse habe. Ich muss also nur die Straße finden.
Und hoffen, dass ich nicht zu spät komme.
Ich sehe mir die Adresse genauer an. Noch nie gehört, die Straße. Aber dafür habe ich einen Plan. Ich laufe zum nächsten Kiosk und leihe mir dort einen Stadtplan, in dem ich nach der Straße suche. Nebenbei gebe ich meine letzten Münzen für ein wenig Wurst aus – für Sam und mich. Von jetzt an werden wir Eichhörnchen und Tauben jagen müssen, um über die Runden zu kommen.
Ich finde die Straße schließlich in einem erstaunlich gutsituiertem Viertel. Ich hätte nicht erwartet, dass Jens und die anderen dort Geschäfte machen würden.
Ich präge mir den ungefähren Weg ein und lege den Stadtplan zurück, sehr zum Missfallen des Ladenbesitzers, der gehofft hatte, ich würde noch mehr kaufen.
Als ich aus dem Laden nach draußen trete, trifft mich die plötzliche Helligkeit wie ein Schlag. Die Sonne ist aufgegangen.
Ich blinzele. Durch meine Augen schießen stechende Schmerzen in meinen Kopf. Stöhnend taumele ich zur Seite und suche nach Schatten. Das Licht blendet mich so extrem, dass ich die Augen nicht offen halten kann. Ich spüre Sam an meinem Bein, der mich in irgendeine Richtung drückt.
Hilflos vertraue ich dem Border Collie. Schließlich berührt mein Rücken Stein und ich sinke im Eingang eines Reihenhauses auf die Stufen.
Hier herrscht ein Rest Schatten. Ich lehne mich an den Stein, erschöpft, verwirrt und vollkommen entkräftet. Passanten werfen mir Blicke zu, wie sie normalerweise den Drogensüchtigen am Hauptbahnhof gelten.
Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn und spüre Schweiß. Sam sitzt aufrecht neben mir, um mich zu bewachen.