Im Lesungsraum:
Die holzgetäfelten Wände und die goldenes Licht verbreitenden, altmodischen Lampen im Hotel Cecilia schienen nach den Ereignissen im Keller wie eine unwirkliche und fremde Welt – ein anderer Planet, in einem vergangenen Jahrhundert stecken geblieben und ignorant für die Schrecken der Wirklichkeit.
Alle fünf waren kreidebleich im Gesicht, als sie aus dem Keller in die Welt der Lebenden zurückkehrten. Evelyn war noch farbloser als alle anderen zusammen.
Ihre Hände zitterten, und ihr Atem ging immer noch flach. Angst und Ekel schnürten ihr den Magen und den Brustkorb zusammen. Sie konnte das Blut nicht aus dem Kopf kriegen, dass auf dem Boden gewesen war, überall. Blut. Halb geronnen, rot, fast schwarz, klebrig, verschmiert, einfach überall. Sie hatte davor zurück weichen wollen und war beinahe mit dem Rücken an einen schmalen Streifen Blut an der Wand geraten. Keinen Schritt hatte sie gehen können, ohne den Boden dreimal zu überprüfen. Jeder Schatten, jede Lücke im grünen Putz, jeder Schatten sah wie ein neuer Blutfleck aus, und den Kontakt musste sie um jeden Preis vermeiden. Sie fühlte sich schmutzig, klebend, und hielt die Hände vor die Brust, um nichts zu berühren. Dennoch glaubte sie nicht, jemals wieder sauber werden zu können.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Milo und riss Evelyn damit in die Realität zurück. Er hielt sie an der Hand, ohne ihn wäre sie sicher schon längst geflohen.
„W-wir tun s-so, a-a-als hätten w-wir ni-nichts bemerkt?“, schlug Liam vor: „U-und rufen die Poliz-zei?“ Er stotterte, auf seinen Wangen malten sich rote Flecken ab.
Amy sah sich wachsam um: „Leute – gleich fängt die Lesung an!“
„Hast du nichts besseres im Kopf?“, fuhr Milo sie an. Evelyn zuckte zusammen. Milo drückte beruhigend ihre Hand, ohne sie dabei anzusehen. Tröstete sie, ohne die anderen ihre Schwäche merken zu lassen.
„Nein“, wehrte Amy ab: „Ich meinte, dass wir besser hingehen. Wenn wir fehlen, wird es jemandem auffallen. Wir können uns dort besprechen.“
Evelyn runzelte die Stirn: „Warum bleiben wir hier? Wir sollten die Polizei rufen und dann verschwinden!“
Amy schüttelte den Kopf: „Wir haben die Tour geplant. Außerdem wissen wir nicht, was wir gesehen haben. Vielleicht war es nur eine Attrappe. Deko. Wer weiß das schon? Wir müssen Ruhe bewahren.“
„Ja. Nichts wäre schlimmer, als falschen Alarm zu geben. Dann sterben wir lieber!“, ächzte Luca, der sich den Magen hielt und verdächtig grün im Gesicht war.
„W-wir spionieren den F-feind aus!“, sagte Liam ernst: „Und l-lösen den Fall.“
Evelyn konnte nicht mehr an sich halten: „Das hier ist keine Geschichte!“, platzte es aus ihr heraus: „Will das nicht in eure Köpfe?“
„Hey!“, ging Milo dazwischen und hielt Eve zurück. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie einen Schritt auf Amy zu gemacht hatte. „Egal, was wir tun, wir tun es zusammen. Und ich finde, es ist vernünftig, erst einmal abzuwarten. Wir haben eine Horror-Tour gebucht – da sollten wir erwarten, dass die Hotels versuchen, uns zu erschrecken. Am Ende gehört es dazu, und wir stehen wie Idioten da. Lasst uns wenigstens die Lesung abwarten, dann können wir immer noch abhauen. Niemand weiß, dass wir im Keller waren – es sei denn, ihr schreit weiter auf dem Gang herum!“
Evelyn erinnerte sich daran, dass es Milo gewesen war, der zuerst geschrien hatte.
„Wir sind alle fertig“, sagte sie: „Denken wir erst nach, bevor wir irgendwas überstürzen.“
Damit schien das letzte Wort gesagt zu sein, was sogar Eve überraschte. Milo hielt sie fest, während sie hinter Amy her zum richtigen Raum liefen.
Das Zimmer war sehr klein. Abgesehen von den fünf Jugendlichen waren nur wenige Menschen anwesend. Ein Ehepaar, der Mann Mitte 40, die Frau ein ganzes Stück jünger, eine Gruppe aus fünf Senioren und eine weitere Gruppe Jugendliche, fünf Mädchen und ein Junge, der ein breites Grinsen zur Schau trug.
Kaum einer von ihnen achtete auf die Altersgenossen, nur Eve ließ den Blick über die sechs schweifen. Die Mädchen waren allesamt wunderschön, das fiel ihr sofort ins Auge und verwunderte sie. Ob sie jetzt brav, wild, verrucht oder schüchtern, jedes Mädchen hatte eine Schönheit zu eigen, die nicht ganz von dieser Welt zu sein schien. Der Junge wirkte ein wenig älter, vielleicht schon auf dem Weg zur 30, und plauderte angeregt mit seinen Begleiterinnen, die an seinen Lippen zu hängen schienen. Eve wandte nur den Blick ab und drückte Milo ein wenig fester an sich.
Amy suchte ihnen in dem Raum fünf Sessel im hinteren Bereich, die sich um einen runden Kaffeetisch drängten. Die Sessel waren gedrungen, mit dicken, grünen Polstern, in die man tief hinein sank. Der Tisch war ebenso niedrig. Bücherregale säumten die Wände, im vorderen Bereich des Raumes flackerte ein animiertes Kaminfeuer auf einem Bildschirm, dessen Rahmen einem Kamin nachempfunden war. Abgesehen von diesem Detail schien alles, Teppiche, Bücher, sogar die Luft aus einen anderen Jahrhundert zu stammen. An der Decke hingen Kronleuchter mit elektronischen Kerzen, die jedoch ein schwaches, flackerndes Licht verbreiteten, das genauso spärlich war wie das Licht echter Kerzen. Der Raum war von gedämpften Gemurmel erfüllt, dessen Tonlage an gefüllte Konzertsäle erinnerte, in denen jeder Mensch leise flüsterte – ein Rauschen, aus dem keine einzelnen Worte herauskristallisiert werden konnten. Der Lärm plätscherte dahin wie ein Wildbach.
Vielleicht lag es auch daran, dass sie alle unter Schock standen. Sie nahmen kaum wahr, wie sich ein älterer Mann gewichtig in den einzigen roten Sessel fallen ließ, dicht am Kamin. Erst die Stille weckte die Aufmerksamkeit der Jugendlichen, als sich der Mann räusperte, seine Brille zurecht rückte und ein Buch aufschlug.
Das Buch war ein schmaler, in rotes Leder eingeschlagener Band, auf dem in goldenen Lettern der Titel stand. „Die Göttliche Komödie“
Evelyn erinnerte sich nur noch schattenhaft, im Unterricht ein Referat über das Thema gehört zu haben. Hängen geblieben war nicht viel – der Inhalt des Buches war jedenfalls alles andere als lustig, so meinte sie sich zu erinnern.
„Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie“, sagte der Mann feierlich. Er trug ein gestreiftes Hemd unter einer braunen Weste, eine Kordhose und rieb sich den Schnurrbart, bevor er sich die Finger beleckte und die erste Seite aufschlug: „Hölle.“
Wieder wurde umgeblättert. Jeder im Raum schien die Luft anzuhalten: „Erster Gesang.“
Der Mann konnte gut vorlesen. Schon mit der ersten Strophe verfiel seine Stimme in einen Singsang, folgte dem Rhythmus der Worte spielerisch leicht und hüllte die erschrockenen Gedanken der Jugendlichen ein.
„Als unseres Lebens Mitte ich erklommen,
Befand ich mich in einem dunklen Wald,
Da ich vom rechten Wege abgekommen.“
Die ruhige Stimme wirkte einschläfernd. Es war warm im Raum, und der Keller wirkten schon fern und wie ein böser Traum. Die fünf warfen einander Blicke zu, doch Evelyn konnte beobachteten, wie Misstrauen, Angst und Sorge aus den Augen ihrer Freunde verschwand.
Der erste Gesang strich über sie hinweg. Atemlos lauschten sie, wie der verirrte Protagonist auf den Dichter Vergil traf und beschloss, diesem durch die Hölle zu folgen, um dahinter das Paradies zu erreichen. Der Mann las langsam und ruhig, in jeder Pause wartete man gespannt auf das nächste Wort. Erneut tauschte Evelyn Blicke mit ihren Freunden. Es war still in dem Raum. Sie hätten sich nicht bereden können, selbst, wenn ihnen der Sinn danach gestanden hätte. Sie fühlten sich wie unter einem Zauber, der endlos andauern mochte.
Dann begann der dritte Gesang, in dem das Tor zur Hölle beschrieben wurde. Evelyns Blick wurde wie magisch von der Tür zu dem kleinen Leseraum angezogen.
„Durch mich gelangt man zu der Stadt der Schmerzen,
Durch mich zu wandellosen Bitternissen,
Durch mich erreicht man die verlorenen Herzen.
Gerechtigkeit hat mich dem Nichts entrissen;
Mich schuf die Kraft, die sich durch alles breitet,
Die erste Liebe und das höchste Wissen.
Vor mir ward nichts Geschaffenes bereitet,
Nur ewges Sein, so wie ich bin:
Laßt jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet.“ *
Nach diesen Worten schlug der Mann das Buch zu und das Licht erlosch fast augenblicklich. Vom Tisch der Senioren ertönten erschrockene Laute, ein Mann rief: „Was ist hier los?“
Evelyn spürte, wie sich Milos Hand fester um ihren Arm schloss. Sie hielt den Atem an und lauschte, versuchte ihre Augen an die plötzliche Finsternis zu gewöhnen und wartete.
Mit einem Knarzen öffnete sich die Tür zum Raum, gedämpftes Licht fiel hinein. Der Vorleser war spurlos verschwunden, nur die Gäste befanden sich noch in dem Raum. Ein kalter Windzug fuhr hindurch. Die fünf wunderschönen Mädchen standen allesamt und blickten sich nervös um, das Ehepaar tastete nach Handys.
Liam hatte seine eigene Taschenlampe gezückt, aber er zögerte. Evelyn spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken kroch.
Es war ein Fehler, zu bleiben. Sie sollten längst hier fort sein!
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*Dante Alighieri, „Die Göttliche Komödie“, Gesang I u. III, Übersetzung: Wilhelm G. Hertz