Die Nacht:
Das Abendessen verlief ruhig. Amy war mehr als ein bisschen erleichtert, als Eve und Milo auftauchten, noch benommen und in Eves Fall wackelig auf den Beinen, aber bei bester Gesundheit. Die beiden aßen mit mehr Appetit als jeder andere an der langen, mit Speisen beladenen Tafel, an der sie saßen. Dimitri versuchte, die Atmosphäre mit einer kleinen Geschichte aufzulockern, einer recht witzigen Anekdote über einen Urlaub in Japan. Unter anderen Umständen hätten sie gelacht, denn Dimitri erzählte gut und lebhaft, doch so starrten die meisten trübsinnig auf ihre Teller oder in die Luft und waren mit ihren Gedanken woanders. Trotzdem war Amy dem Russen dankbar und machte das mit einem freundlichen Lächeln deutlich. Dimitri schien die Umstände zu verstehen.
Sie hatten alle Einzelzimmer, oder besser Räumlichkeiten, denn jeder hatte ein Schlafzimmer, ein Ankleidezimmer, ein Bad und ein kleinen Aufenthaltsraum, die er sein Eigen nennen konnte. Jedenfalls diese Nacht. Amy, der die missglückenden Fluchtversuche inzwischen zum Hals heraus hingen, schloss sich nach dem Abendessen in ihrem Zimmer ein und ließ heißes Wasser in die Badewanne einlaufen.
Sie entspannte sich in dem warmen Wasser und schaffte es endlich wieder, in Ruhe über den Urlaub nachzudenken. Sie kam nur zu dem gleichen Schluss wie zuvor: Etwas lief hier nicht ganz richtig. Nach dem Unfall von Eve, spätestens, hätten sie mit einem Verantwortlichen sprechen müssen. Ein Arzt hätte sich das Mädchen ansehen müssen. Amy hoffte inständig, dass Eve keine bleibenden Verletzungen erlitten hatte. Beim Abendessen hatte Eve eine lockere Hose von Milo getragen und gestanden, dass ihre Knie vollkommen zerschlagen waren. Liam hatte immer noch Schmerzen im Knöchel von ihrem Sprung aus der Villa Diodati und keiner, nicht einmal er selbst, wusste, was mit Milo war. Das waren viele Verletzungen, fand Amy. Zu viele, um noch von harmlosen Gruselspaß zu reden.
Je länger sie nachdachte und dabei in dem Wasser versank, desto sicherer war sie sich, dass die Tour gefährlich war. Auch, wenn sie für die meisten Verletzungen selbst die Schuld trugen.
Man hinderte sie aktiv daran, die Tour abzubrechen. Zu entkommen. Und das machte Amy die meisten Sorgen. Wenn man eine Achterbahn fuhr, dann sah man alle Paar Meter Plattformen, an denen man im Notfall abspringen konnte. Bei der Tour gab es nichts dergleichen. Jetzt saßen sie in einem alten Haus mitten im Moor, das zudem knarzte und stöhnte wie eine alte Frau. Sie waren so entlegen, dass sie praktisch die einzigen Menschen auf der Welt sein könnten.
Amy glaubte nicht, dass sie wirklich entkommen könnten. Sie überschlug im Kopf, wie viele Hotels hinter ihnen lagen - nicht, dass das lange gedauert hätte, denn sie behielt die ganze Zeit den Überblick - und realisierte, dass das nächste Hotel die Hälfte der Tour markierte.
Sie hatten fast die Hälfte geschafft. Vielleicht war es überflüssig, noch fliehen zu wollen. Heute in einer Woche wäre alles vorbei.
Amy sank ein bisschen tiefer ins Wasser und merkte, dass es kalt geworden war. Seufzend stieg sie aus der großen Wanne und hüllte sich in ein Handtuch. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie ihre Schlafsachen an. Sie föhnte sich die Haare und machte sich gerade breit, ins Bett zu klettern, als sie ein Geräusch hörte, das ihr durch Mark und Bein ging.
Ein Heulen, wie von einem Wolf. Amy erstarrte, denn das Geräusch war viel zu nah. Wenn es ein Wolf war, so befand er sich im Haus!
Sie schnappte sich die erstbeste Waffe, einen Regenschirm aus ihrem Vorzimmer, und schloss vorsichtig die Tür zum Gang auf.
Nervös spähte sie auf den Gang. Sie sah eine helle Gestalt am Ende des Ganges, die jedoch gerade um die Ecke bog, als Amy die Tür öffnete. Sie atmete flach und überlegte, ob sie im Pyjama und mit nassen Haaren auf den Gang gehen sollte.
Dann hörte sie einen Schrei.
Amy fuhr zusammen, denn die Stimme gehörte Liam.
Den Regenschirm in der Hand stürmte sie auf den Gang und um die Ecke, wo Liams Zimmer lag.
Doch von der weißen Gestalt war nichts mehr zu sehen, nur Liam saß bleich wie der Tod auf dem Boden.