Auf endlosen Gängen:
Eve umklammerte ihre Karte, sodass niemand im Vorbeigehen die ganzen Daten darauf lesen konnte. Milo folgte einen halben Schritt hinter ihr. Sie liefen durch die weißen Gänge, die auf halber Höhe einen grauen Streifen als Akzent hatten. Evelyn versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den sie hergekommen waren. An dieser Kreuzung waren sie links gegangen, und jetzt rechts. Dann noch um die Ecke und - Eve stand vor einer weißen Wand, statt vor den Aufzügen, wie sie es erwartet hatte. Als sie unvermittelt stehen blieb, lief Milo beinahe in sie hinein, der irgendwas auf seinem Handy nachgesehen hatte.
"Wir müssen irgendwo falsch abgebogen sein", sagte Eve und machte auf dem Absatz kehrt. Milo trat aus ihrem Weg und ließ sie wieder vor gehen.
Eve versuchte es damit, an der vorherigen Kreuzung links ab zu biegen, doch auch diesmal landeten sie in einer Sackgasse. Unzählige Türschilder aus Messing glitten vorbei, während Eve durch die Gänge lief und die weißen Wände verfluchte, vor denen sie jedes Mal auskam. Nicht ein einziges Fenster begegnete ihnen auf der Suche. Eve verlor jede Orientierung.
"Vielleicht gehen wir besser zum Zimmer zurück", schlug Milo vor: "Und versuchen es nochmal von vorne."
"Und wie kommen wir zurück zum Zimmer?", fragte Eve und suchte auf ihrer Schlüsselkarte nach der Zimmernummer, die sie bereits vergessen hatte.
"Ähm", machte Milo, was Eve wirklich nicht ermutigte. Zerstreut fuhr sie sich durch die Haare und lehnte sich dann an die Wand.
"Ich will nicht mehr!", platzte es aus ihr heraus: "Diese ganze Tour war eine Scheiß-Idee!"
"Hey, Babe", sagte Milo und legte ihr eine Hand auf die Schulter: "Halb so schlimm. Wir finden den Veranstalter und lassen uns abmelden."
Eve atmete zitternd. Sie war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Die Gänge wollten kein Ende nehmen, und sie wollte einfach nur noch nach Hause. Spätestens, als sie ihre privaten Daten öffentlich um den Hals tragen musste, war bei ihr das Maß voll gewesen.
Trotzdem atmete sie tief durch und straffte die Schultern. Sie musste sich jetzt zusammen reißen: "Weißt du, welches Zimmer wir haben, Lou?", fragte sie.
Milo lächelte säuerlich. Lou war der Spitzname, den er mit sieben von ihr bekommen hatte. Eigentlich waren diese Zeiten längst vorbei.
"Nein. Irgendwas mit 400", meinte er.
Eve seufzte: "Alle Zimmer im 4. Stock haben eine 400ter Nummer."
"Ich glaube", Milo kniff die Augen zusammen und zupfte an seinem Tunnel, "4 6 irgendwas."
Eve sah sich um. Sie standen bei den 620er.
"Dann da lang", meinte sie und ging vor.
Statt zu dem Zimmer kamen sie allerdings in einen neuen Gang und standen unvermittelt vor den Aufzügen. Eve lachte trocken. Sie hatte eine Ecke zu früh aufgegeben.
"Zur Rezeption?", fragte Milo und Eve nickte.
Sie hatten den anderen noch nicht gesagt, dass sie gehen wollten. Eve hatte nur Milo ins Vertrauen gezogen. Es sprach für ihren Horror-liebenden Freund, dass er sofort beschlossen hatte, sie zu begleiten. Damit war Eve wenigstens nicht die Einzige, die ging.
Sie traten in einen der fünf Aufzüge und fuhren ins Erdgeschoss. Milo stieß Eve an und lächelte ihr beruhigend zu. Bald wäre alles vorbei. Die Aussicht erfüllte Eve mit neuem Mut.
Im Foyer war es jetzt leerer. Vielleicht war die beliebteste An- und Abreisezeit vorbei. Eve marschierte zu dem nächsten Schalter und lächelte die Dame dahinter an: "Ich möchte gerne aus checken. Vorzeitig."
"Welches Zimmer?", fragte die Frau.
"Äh, weiß ich nicht so genau. Das der Hell-Hopping-Tour", sagte Eve und zeigte widerstrebend ihre Karte vor. Milo trat neben sie: "Zweimal aus checken", betonte er und entlockte Eve ein liebevolles Lächeln.
"Oh, tut mir leid. Da kann ich Sie leider nicht abmelden", meinte die Empfangsfrau: "Da Sie ja auch nicht hier angemeldet sind, sondern bei den Veranstaltern der Tour selbst."
Eves Lächeln schwand nur für einen winzigen Moment: "Dann würde ich gerne den Verantwortlichen für die Tour sprechen."
Die Frau tippte etwas in den Computer vor sich ein und runzelte die Stirn: "Hmm, seltsam. Wir haben keinen Verantwortlichen im Hotel."
"Haben sie eine Telefonnummer?", bettelte Eve und beugte sich vor. Sie sah ihre Hoffnungen schwinden und bemerkte Milos beunruhigten Blick.
Die Frau suchte noch etwas weiter. Das Schweigen wurde unangenehm lang. Dann sagte die Frau: "Tut mir leid. Hier steht nichts. Vielleicht kann Maya euch weiter helfen. Sie hat euch doch abgeholt, oder? Wartet, ich drucke euch die Raumnummer aus."
Die mitleidige Bedienung war zum Du gewechselt. Eve hatte das Bedürfnis, sich weinend in eine Ecke zu werfen. Warum musste das alles nur so kompliziert sein? Sie wollte nur ein Taxi nach Hause!
Der Drucker surrte und dann wurde ihnen ein gefaltetes DinA4 Blatt gereicht: "Das ist der Raum, in dem Maya wohnt. Sie müsste jetzt da sein, ansonsten könnt ihr ihr sicher eine Nachricht dalassen."
"Danke", sagte Eve. Die Frau schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln: "Viel Glück."
"Danke", sagte Eve nochmals und drehte sich um. Milo nahm ihre Hand.
Sie mussten in den zweiten Stock. Doch auf dem Weg zu den Aufzügen sahen sie, wie sich eine der Türen öffnete und Amy, Luca und Liam heraus traten. Amy hatte sie sofort entdeckt und lief auf sie zu: "Wo wart ihr? Wir haben uns sorgen gemacht. Alles in Ordnung?"
Eves Verzweiflung musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen. Sie zögerte, dann sagte sie: "Ich breche ab."
Amy nickte, als habe sie das erwartet. Nur Luca zeigte die Reaktion, mit der Eve eigentlich gerechnet hatte: "Was? Du meinst, du brichst die Tour ab? Wieso?"
Eve konnte es nicht erklären. Nicht wirklich. Aber Amy kam ihr zuvor: "Geht Milo mit dir?"
Er nickte. Eve liebte ihn dafür.
"Gut", sagte Amy und deutete auf den Zettel: "Schon alles geklärt?"
"Nein", sagte Eve und erzählte in knappen Worten, dass die Frau am Empfang sie nicht entlassen konnte und sie Maya suchen mussten.
"Wir kommen mit", beschloss Liam und lächelte.
Amy nahm Eve den Zettel ab und setzte sich an die Spitze. Sie hatte sowieso die bessere Orientierung.