Im Schlafsaal der Jungen
Nachdem sie so unsanft geweckt worden waren, hatten sich alle 12 Jungen und Mädchen in das kleine Zimmer von Liam, Luca, Samstag und Milo gequetscht. Keiner fühlte mehr das Bedürfnis, sich in ein Bett zu legen, oder auch nur auf den Gang zu treten, um das eigene Zimmer zu erreichen. Sie hatten ein Doppelbett vor die Tür geschoben, auf dem unten Samstag und Mira saßen, oben Tee-jo und Amy, mit Tischlampen und Taschenmessern bewaffnet. Die anderen hatten sich auf den anderen zwei Betten, auf den vier Stühlen, und in Liams Fall auf dem Boden ausgebreitet. Obwohl das Licht im Zimmer brannte, hatten Wild Child, Eve und Luca je eine Taschenlampe griffbereit.
Die einzige im Raum, die nicht wirkte, als sei sie in einem Graben an der Front im
Zweiten Weltkrieg, war Samira, die in einem Buch las. In einem Gänsehautroman, um genau zu sein. Liam wusste nicht, wie sie in dieser Situation so ruhig bleiben konnte. Und dann auch noch Horrorbücher lesen, als würden sie gerade nicht mitten in einer solchen Geschichte stecken.
Er hatte seine Spielzeugpistole neben sich liegen. Obwohl es vielleicht albern war, fühlte er sich von dem Plastik getröstet.
Es geschah sehr wenig. Das Zimmer hatte keine Fenster, nur die bemalten Wände mit Vampiren, Fledermäusen und schwarzen Schlössern. Liam sah ab und zu auf die Uhr. Es war halb Vier. Das Verstreichen der Zeit war unwirklich, wenn man nicht beobachten konnte, wie der Himmel langsam heller wurde. Er würde einiges dafür geben, jetzt die Sterne zu sehen und zu wissen, dass die Nacht nicht ewig weiter gehen würde.
Als er gemeinsam mit den anderen die Tour gebucht hatte, hatte er sich sicher nicht vorgestellt, die Nächte eingeschlossen in einem Zimmer zu verbringen. Er hatte eher an harmlosen Gruselspaß gedacht, sonst wäre er vielleicht nicht mitgekommen.
Ob es jetzt zu spät war, sich abzumelden?
Er warf wieder einen Blick auf die Uhr. Immer noch halb Vier. Gerade mal eine Minute war vergangen.
Er fühlte sich müde, aber da er mit dem Rücken an das unbequeme Holz des Bettes gelehnt saß, konnte er nicht einschlafen. Er fühlte sich nur sehr elend. Und fror.
Das änderte sich schlagartig, als ein neues Geräusch erklang. Diesmal war es kein Knurren, sondern ein hohes Kreischen, wie von einer Alarmanlage.
Besorgt hoben die anderen die Köpfe, die wohl genau wie er mit offenen Augen geschlafen hatten. Es war tatsächlich eine Sirene, die da schrillte. Unsicher warfen sie sich Blicke zu.
„Ist das der Feueralarm?“, fragte Eve nervös.
Samstag legte den Kopf schief und lauschte angestrengt: „Klingt so.“
„Dann sollten wir vielleicht hier raus“, meinte Samira und klappte ihr Buch zu, legte aber einen Finger als Lesezeichen zwischen die Seiten. Liam bemerkte, dass sie mit dem Buch fast durch war – sie las sehr schnell.
Milo fasste Evelyns Hand. Samstag, Amy, Tee-jo und Mira sprangen von dem Bett und begannen, es von der Tür weg zu schieben. Liam schlucke. Brannte es wirklich im Hotel? Das war ja noch unheimlicher als Werwölfe in der Nacht. Er schnappte sich die Plastikpistole und schulterte seinen Rucksack, den er bereits gepackt hatte. Die meisten hatten nach den Ereignissen der Nacht ihre Taschen gepackt und in diesen Raum getragen, in der Hoffnung, dass sie dann am Morgen umso schneller fort sein würden.
Als das Bett fort war, drängten sie durch die Tür und flüchteten sich hastig in Richtung Ausgang, ohne auf die Fluchtwegschilder zu achten. Als sie den wie einen Mund geformten Eingangsbereich erreichten, standen dort bereits einige Mitarbeiter, die wohl gerade unterwegs gewesen waren, um sie zu suchen. „Raus, jetzt aber zackig!“, rief ihnen jemand zu.
Die Gruppe der Hell-Hopping Tour rauschte durch die Tür in die eisig kalte Nachtluft. Dimitri wartete dort bereits, erstaunlicherweise vollständig angezogen, als hätte auch er die Nacht schlaflos verbracht.
Draußen in dem Vorgarten reckten die Kinder die Köpfe und suchten nach dem Feuer. Liam konnte keinen Feuerschein erkennen, und ebenso keinen Rauch.
„Was seit los?“, verlangte Samira von einem der Angestellten zu wissen. Die Antwort des Mannes konnte Liam nicht verstehen, dafür Samiras Aufschrei: „Probealarm? Um halb Vier? Ist das Ihr Ernst?“
Er schloss erschöpft die Augen und wankte zu einer kleinen Bank, die am Rand des unheimlichen Waldes stand. Die Bank war nass, aber solange er sitzen konnte, war ihm das vollkommen egal.
Müde strich er sich über das Gesicht.
Warum nur hatte er zugestimmt, diese Tour zu machen? Hätten sie ihr Abitur nicht in der Karibik feiern können?