Auf der Straße:
Milo wurde einfach nicht wach. Eve verzweifelte daran, an der Schulter ihres Freundes zu rütteln. Der Regen vermischte sich mit den Tränen, die ihr vor Angst und Verzweiflung über das Gesicht strömten. Sie wusste nicht, warum Milo bewusstlos neben ihr lag, verstand es auch nicht. Seit sie in diesem Keller gewesen waren, hatte sich eine nagende Angst in ihr Bewusstsein geschlichen. Irgendetwas, das Milo gesehen hatte, ließ ihn jetzt nicht aufwachen. Mehr als einmal fürchtete sie, er wäre tot. Doch sie konnte seinen Atem schwach in der kalten Luft dampfen sehen.
"Bitte. Wach auf", bettelte sie und fühlte sich vollkommen allein. Bis auf den Fahrer war Niemand sonst in dem alten, hustenden Auto, das sich schwerfällig über die Landstraße quälte und keinen Schutz vor dem Regen bot.
Eve hatte Milo in ihre Jacke gehüllt, damit er nicht fror. Vor ihr fuhr ein weiteres Auto, das mit Samira und Dimitri, hinter ihnen fuhren drei weitere Wagen. Aber ihre Freunde waren unerreichbar. Der Fahrer sprach kein Wort. Nicht einmal, als Eve ihn anschrie, dass sie zu einem Krankenhaus müssten. Sie hatte auf den Mann eingeschlagen und er hatte sie zurück auf ihren Sitz gestoßen, mit mehr Kraft, als sie ihm zugetraut hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er ihr ein einziges Mal in die Augen gesehen, und unter seinem Blick kroch eine eisige Gänsehaut Eves Rücken hinauf und setzte sich in ihren Nacken. Sie erstarrte und blieb still neben Milo sitzen, bis der Schock endlich aus ihren Gliedern wich.
Jetzt war sie so verzweifelt, dass sogar Milo sie nicht mehr interessierte. Der Entschluss kam plötzlich über sie, wie ein Wahn. Sie wusste, dass sie sofort handeln musste, oder sie würde es nicht wagen. Nur einen kurzen Blick in den Rückspiegel gestattete sie sich, um zu überprüfen, dass der Fahrer nicht schnell genug reagieren konnte.
Es gab keinen Anschnallgurt. Eve packte den oberen Rand der Tür mit einer Hand und ihre Tasche mit der anderen. Bevor ihr Überlebensinstinkt eingreifen konnte, stieß sie sich mit den Füßen vom Boden des Wagens ab und schwang sich aus dem fahrenden Automobil.
Sie flog durch die Luft und hörte einen Schrei, der ihr eigener sein konnte oder vielleicht Amy gehörte, die sie beobachtete. Dann traf sie auf Asphalt und rollte über die Landstraße, stieß mit dem Kopf gegen die Leitplanke, als sie darunter hinweg rollte und stürzte in den Graben.
Reifen quietschten. Eve wollte sich aufrappeln, aber die Welt drehte sich um sie. Ihre Hände versanken in kaltem Wasser und ihr verzerrtes Spiegelbild sah ihr entgegen, bleich und verschreckt, plötzlich überzogen mit Blut, das ihr ganzes Gesicht überflutete, auf ihre Hände tropfte wie der Regen. Ihr war schlecht. Alle Geräusche verklangen bis auf einen penetranten Piepton in ihren Ohren. Mit offenem Mund, unverständig, sah Eve in das schmutzige, rote Wasser vor sich.
Dann packten zwei Hände sie. Evelyn schrie und strampelte. Plötzlich war das Rote aus ihrer Welt verschwunden, aber nur, weil die Angst alles andere verdrängte. Sie strampelte mit den Füßen und bemerkte, dass ihre teure Jeans zerrissen war. Gegen ihren Widerstand wurde sie zu dem Wagen zurück geschleppt. Nur noch ein Auto stand auf der Fahrbahn, die anderen waren weiter gefahren.
"Nein!", kreischte sie, als man sie neben Milo setzte. Sie schlug nach dem Fahrer, doch der war viel zu stark für sie. Plötzlich spürte sie ein Stechen am Hals, einen kurzen Schmerz.
Wenig später gaben ihre Muskeln nach, verweigerten die Aufnahme jedes Befehls. Schlaff sackte sie zusammen, auf das Polster der Ledersitze, direkt neben Milo und ebenso regungslos.
Der Wagen fuhr wieder weiter. Ungerührt, wie ein Roboter, saß der Fahrer da. Eve fielen die Augen zu und sie konnte nichts tun als ihrem schmerzenden Körper zu lauschen.
Dann sank sie in einen tiefen Schlaf, der voll war von kaltem Wasser, Schreien und tiefen Löchern, in die sie stürzte, Milo an ihrer Seite, der ihr nicht helfen konnte.