Geisterjagd:
Milo rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, den Gang entlang. Eve folgte ihm auf unsicheren Beinen, doch Milo wartete nicht auf sie. Er schlitterte um die Ecke in den Gang, aus dem der Schrei erklungen war.
Liam stand gerade mit Amys Hilfe auf. Der kleine Junge zitterte am ganzen Körper.
"Was ist los?", fragte Milo und kam auf die beiden zu.
"D-das war ein G-g-geist!", stotterte Liam, dem alles Blut aus dem Gesicht gewichen war. Eve trat nah an Milo heran, als suchte sie seinen Schutz.
"Ein Geist? Was soll der Unsinn?", fragte Milo genervt.
"E-eine Frau", stotterte Liam: "Si-sie ka-kam auf m-mich zu. U-und ... sie i-is-is-ist weg!"
Er deutete um sich auf den Gang, der bis auf sie beide leer war.
"Ich habe jemanden gesehen. Von meinem Zimmer aus", berichtete Amy: "Ich hab es nicht genau gesehen, aber es ging auf diesen Gang. Und so schnell kann sich kein Mensch in Luft auflösen!"
"Das ist doch Quatsch!", fauchte Milo: "Es gibt keine Geister, Liam!"
"Ich w-weiß, was ich g-gesehen habe!", stotterte der andere wütend.
Sie fuhren zusammen, als sie alle gleichzeitig einen kalten Luftzug spürten. Die vier wirbelten herum, als wieder ein Wolfsgeheul ertönte, diesmal noch näher. Am Ende des Ganges, dort, wo Milos und Eves Zimmer lagen und wo ansonsten nur Sackgassen waren, stand eine schmale, weiße Frau mit unglaublich langen, weißen Haaren und Fingern, die an Spinnenbeine erinnerten.
Eve quiekte vor Angst. Milo packte sie an der Schulter und zog sie nach hinten, während er selbst die Flucht antrat. Amy folgte ihnen, als die Frau einen Schritt auf sie zu machte. Liam war bereits ein ganzes Stück vor ihnen.
Sie rannten um die Ecke und stürmten in Amys Zimmer, um die Tür hinter sich zu schließen. Keuchend spähte Amy wieder auf den Gang.
"Kannst du was sehen?", fragte Milo, der sich schon wieder für seine Feigheit schämte.
Amy schüttelte den Kopf, hielt aber weiter Ausschau, einen Regenschirm umklammert.
Eine zitternde Hand tastete nach Milo und packte seinen Ellbogen.
"M-m-mi-m-m-milo?"
Milo drehte sich ganz langsam um, als er Liam so heftig stottern hörte.
Hinter ihnen, mitten im Zimmer, stand die Frau. Sie war so nah, dass Milo eigentlich ihren Atem spüren müsste, doch er fühlte nur Kälte. Schwarze Augen sahen ihn an und während er in die Tiefe dahinter spähte, traten Tropfen von Blut aus den Augenhöhlen. Er sah tiefe Krater in dem bleichen Gesicht, in denen sich etwas regte wie Maden.
Eve kreischte. Die Tür schwang auf und die vier stolperten wieder auf den Gang. Atemlos hetzten sie über den Teppich, achteten nicht darauf, wohin sie rannten. Milos Herz raste so heftig, dass er fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Er war immer ein Sportler gewesen, doch bei keiner Anstrengung hatte er so heftig geatmet und so stark geschwitzt. Sein Herz fühlte sich an, als würde es zerspringen.
Eves Finger waren in seinen Arm gebohrt. Liams Hand riss an seinem anderen Arm. Sie hielten einander fest, schubsten sich unabsichtlich, während sie flohen. Die Frau tauchte immer wieder auf, stand in einem Gang vor ihnen, blitze in der Spiegelung eines Fensters auf. Sie war schneller als sie, obwohl sie sich nicht bewegte. Ständig erschien sie, riss den zahnlosen Mund auf und stieß das Wolfsgeheul aus, das so hoch und schreckenerregend war.
Endlich, durch Zufall, stolperten sie in den Eingangsbereich. Ohne nachzudenken flohen sie durch die breite Eingangstür und hinaus in die kalte Luft. Die Frau heulte ihnen nach wie eine Banshee, als sie auf das Moor hinaus rannten.
Doch auf dem Moor, dicht über dem sumpfigen Wasser, leuchteten gelbe Augen auf. Milo bremste zuerst ab, die anderen rannten in ihn hinein.
"Shit!", schrie er aus vollem Herzen.