Im zweiten Stock:
Liam folgte den vier anderen, die mit ihren längeren Beinen deutlich schneller waren. Er keuchte bereits von den wenigen Metern, die sie auf dem Gang des zweiten Stocks zurückgelegt hatten. Wie auch im vierten Stock waren die Wände eintönig weiß bis auf einen grauen Streifen etwa auf Kopfhöhe und die gelegentlichen hellen Türen mit ihren Messingschildern. Amy hatte irgendwie das Prinzip hinter der Nummerierung der Zimmer herausgefunden und erklärte es ihnen, während sie zielsicher den Gang mit Mayas Zimmer suchte. Die ersten Gänge hinter den Aufzügen waren nur dazu da, die Strecke zu überbrücken. Dann kam ein Quergang, von dem weitere Gänge abgingen, und von disen gingen jeweils zwei Gänge ab, die insgesamt zehn Zimmer beinhalteten. Liam hörte mit halbem Ohr zu. Im Endeffekt war es nur von Bedeutung, dass sie bald auf dem Gang standen, wo Mayas Zimmer lag.
Auf ihr klopfen reagierte Niemand. Auch die Klinge ließ sich nicht herunterdrücken - ein Schloss sorgte dafür, dass nur die Zimmerkarte die Tür öffnen konnte. Nach einer Weile probierte Luca sogar seine eigene Karte aus und Eve tat es ihm gleich. Doch auch da passierte nichts.
Eve ließ sich mit dem Rücken an der Wand auf den Boden sinken, stellte die Ellbogen auf die Knie und legte die Schläfen auf die Handballen auf. Milo hockte sich neben sie und versicherte ihr leise, dass sie noch bald genug nach Hause kämen.
"Warum wollt ihr eigentlich aufgeben?", fragte Luca und setzte sich ihnen gegenüber.
"Das ist doch nicht mehr normal!", zischte Evelyn.
Luca zuckte mit den Schultern: "Sie wollen uns erschrecken. Ich habe mir zwar mehr eine Geisterbahn vorgestellt, aber sie geben sich ja wohl alle Mühe."
"Das ist mir zu real", sagte Eve und rieb sich verdächtig die Haut unter den Augen. Liam fühlte sich hilflos.
"Aber das Geld!", sagte Luca.
"Geld spielt keine Rolle!", mischte Amy sich ein: "Nur, weil es Geld gekostet hat, muss Eve sich zu nichts zwingen!"
"Es war eine dumme Idee, mitzukommen", seufzte Eve: "Ich mag überhaupt keinen Horror!"
"Wir gehen nach Hause und sehen uns ein paar Til Schweiger Filme an", versuchte Milo einen Scherz.
"Es ist ja auch doof, dass du jetzt abbrechen musst. Nur wegen mir", jammerte Eve weiter: "Du hast dich so gefreut!"
Milo winkte ab: "Wir sorgen einfach dafür, dass wir auch so Spaß haben."
Eve seufzte und sah in die Runde: "Ich bin immer der Feigling in unserer Runde, oder?"
"Hey, das ist meine Rolle!", beschwerte sich Liam und trat vor. Er kannte diese Phasen von Evelyn, wenn sie an allem zweifelte. Er hoffte nur, dass diese Phase schnell um ging, ohne größere Existenzkrise.
Eve lächelte tatsächlich schwach: "Ihr werdet euch ja trotzdem gruseln."
"Ihr müsst mir nachher alles erzählen!", bestand Milo und Luca schlug mit dem anderen Jungen wie zum Deal ein.
Amy sah sich um: "Ich glaube, Maya kommt so bald nicht. Vielleicht sollten wir sie suchen."
"Wo kann sie denn sein?", fragte Luca.
Amy zuckte mit den Schultern: "Überall. Wir teilen uns am Besten auf. Einer wartet hier, die anderen suchen sich jeweils einen Hotspot und gucken da nach ihr. Wer sie findet, schickt den Anderen eine SMS."
"Was für Hotspots?", fragte Milo.
"Küche, Schwimmbad, unser Zimmer, Foyer", zählte Amy auf: "Irgendwo muss sie ja sein."
"Es sei denn, sie haben hier noch ein zweites Hotel im Keller", knurrte Luca: "Ich gehe zur Küche."
"Schon klar", meinte Amy und pikte ihn in den Bauch: "Liam?"
"Ich warte hier", sagte er schnell: "Sonst verlaufe ich mich nur."
Eve beschloss, im Foyer zu warten und Milo wollte ihr Zimmer überprüfen. Damit blieb für Amy nur der Außenbereich, wo es vermutlich regnerisch und kalt sein würde.
"Findet sie schnell", sagte sie deshalb.
Nachdem seine Freunde gegangen waren, setzte Liam sich auf den Boden gegenüber von Mayas Tür und holte sein Handy heraus. Er spielte Candy Crush, um sich die Zeit zu vertreiben, aber eigentlich achtete er kaum darauf, was seine Finger auf dem Touchscreen taten. Der Boden wurde schnell unbequem und kalt.
Deswegen war er mehr als erleichtert, als gegen Nachmittag eine SMS von Luca kam. Liam öffnete sie und runzelte dann die Stirn.
"Hab Maya gefun", stand auf dem Bildschirm. Die Nachricht war an ihre Gruppe bei WhatsApp - "Hell-Hopping" - gesendet worden, deshalb sah Liam, dass Amy bereits geantwortet hatte.
"Wo bist du?"
Die kleinen Häkchen erschienen, die zeigten, dass auch Evelyn und Milo die Nachricht gesehen hatten. Aber von Luca kam keine Antwort.
"Luca!", schrieb Liam und stand auf. Er merkte, dass ihm die blonden Haarsträhnen an der Stirn klebten.
Er ging langsam den Gang hinunter und hoffte, sich an den Weg zu den Aufzügen erinnern zu können.
"Nicht witzig!", hatte Eve geschrieben, als er das nächste Mal auf den Bildschirm sah. Doch wie als Antwort erschien nur die Mitteilung, dass Lucas Handy ausgeschaltet war.
"Foyer, 5 Min", schrieb Amy. Liam steckte sein Handy ein und lief los.