Am Rande des Wahnsinns:
"Eve!", brüllte Amy so laut, dass ihre Kehle zu zerspringen schien.
Der Wolf hob das blutige Maul von der Wiese. Amy stand da, unfähig, sich zu rühren. Ihr Herzschlag ging schnell vor Angst.
Sie musste etwas tun!, durchzuckte es sie, als der Wolf seine glimmenden Augen auf sie richtete. Aber ihr Kopf war wie leergefegt. In einer Welt, wo solche furchtbaren Dinge möglich waren - was sollte ein Mensch dagegen tun?
Eine Hand schloss sich um ihr Handgelenk. Sie wirbelte herum und erkannte Luca im letzten Moment. Beinahe hätte sie vor lauter Entsetzen zugeschlagen.
"Komm", sagte er und zog sie mit sich. Amy stolperte hinterher, verwirrt, aber bereit, einfach zu tun, was man ihr sagte.
Sie hatte die Kontrolle endgültig verloren. Nicht einmal sich selbst konnte sie noch steuern.
Endlich sah sie, was Lucas Plan war. Die Wölfe strömten auf die Lichtung. Und in dem Ring tat sich eine Lücke auf. So schnell, wie sie noch nie gerannt waren, hetzten die beiden durch das hohe Gras. Zu beiden Seiten sprangen die Wölfe vor, schneller, als ein normales Tier laufen könnte. Hinter ihnen heulte die rote Wölfin und befahl ihren Kindern, die Beute zu reißen.
Und die Beute flüchtete.
Gerade, als sie den Waldrand erreichten, hielt Luca plötzlich inne. Amy rannte in ihn hinein.
"Luca", rief sie und wollte ihn vor sich her schieben.
Luca riss sich los und rannte zurück.
Wie angewurzelt blieb Amy stehen und starrte ihm hinterher. Was für ein Zauber war das jetzt? Die Wölfe waren fast bei ihnen. Sie mussten fliehen!
Sekunden verstrichen. Amy merkte, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Selbst fliehen oder gemeinsam mit Luca sterben. Im letzten Moment sah sie, worauf der Junge zuhielt.
Eine Gestalt robbt über den Boden. Luca erreichte den Menschen und zog ihn hoch.
Jetzt rannte auch Amy los. Die Wölfe drängten sich zwischen sie und den Rest der Gruppe, denn Lily und Mira waren bereits irgendwo im Wald.
Sie stürzte zu Luca und erreichte ihn und den Verwundeten nur knapp vor den Wölfen. Es war Samstag, dem Luca auf die Beine half. Der junge Mann war blutüberströmt, aber durch irgendein Wunder lebte er noch.
Amy hatte ihr Messer in der Hand und trieb es in den Schädel des ersten Wolfes, der sie ansprang. Luca ließ Samstag los, der nur schwankend auf den Beinen blieb, und begann seinerseits, auf die Wölfe einzustechen. Es waren Unzählige, die auf sie einstürmten, eine Masse weit aufgerissener Augen und schnappender Mäuler. Amy wurde von ihren Freunden getrennt. Ein Wolf biss in ihren Knöcheln, ein anderer sprang sie an. Mit einem spitzen Schrei ging sie zu Boden. Orientierungslos trat sie zu, stieß blindlings in die Luft. Heißer, stinkender Atem schlug ihr entgegen. Etwas riss an ihrem Bein und zog sie über den Boden. Sie trat zu und hörte ein Jaulen, aber schon schloss sich der nächste Kiefer um ihr Handgelenk. Es waren einfach zu viele.
Zähne kratzten über ihre Kehle. Sie konnte sich zur Seite werfen, aber gleichzeitig wurde ihr klar, dass ihr jetzt nur noch wenige Augenblicke blieben. Sie war verloren.
Urplötzlich jaulten die Wölfe geschlossen auf. Amy schnappte nach Luft, als sich die Fellmasse von ihr zurück zog. Sie sah Samstag hinter dem Rudel stehen, schwankend und blutüberströmt, aber er schrie aus voller Kehle irgendwelche Worte. Es könnte Latein sein.
Die Wölfe winselten und wichen zurück. Luca sprang zwischen den plötzlich wehrlosen Tieren hindurch und griff Amys Hand. Er zog sie auf die Beine.
Amy schwankte. Um sie herum drehte sich alles. Luca zog sie mit sich, lief zu Samstag und legte sich dessen Arm um die Schultern. Er hielt auf den Wald zu, während Samstag immer noch auf Latein redete.
Ein lautes Knurren erklang. Als Amy sich umsah, starrte sie der roten Wölfin in die Augen. Auf der ganzen Lichtung wälzten sich alle Wölfe in Hörweite auf dem Boden, als würden sie Schmerzen empfinden. Nur die rote Wölfin stand zwischen ihren Dienern. Jetzt setzte sie ihnen mit unglaublich langen Sätzen nach.
Amy stieß einen panischen Schrei aus und rannte schneller. Luca und Samstag folgten ihr. Plötzlich schienen alle Wunden vergessen.
Sie tauchten in den Schutz des Waldes ein, aber sie konnten das keuchende Knurren des Verfolgers noch hören. Amy sprang über umgefallene Bäume, stürzte durch Dornen hindurch und stieß in der Dunkelheit gegen Baumstämme. Bald war ihre Haut mit Kratzern überzogen. Die Bisse der Wölfe schmerzten höllisch. Aber sie konnte nicht anhalten. Jeden Moment rechnete sie damit, dass sich Zähne in ihren Nacken bohren würden.
Sie hatte Luca und Samstag schon fast vergessen, als Luca plötzlich in ihr Blickfeld sprang und nach links deutete. Amy bog ab und merkte, dass Samstag bereits auf der Seite war. Falls ihre Freunde etwas riefen, so ging es im Rasseln ihres Atmens unter. Sie folgte Samstag blind und hoffte, dass es irgendeinen Ausweg aus dieser Hölle gab.
Sie fanden einen hohen, dicken Baum, der auf einer kleineren Lichtung stand, vielleicht auch, weil sein dichtes Blätterwerk kein Licht durchließ, mit dem andere Pflanzen wachsen konnten. Als sie aus dem Wald brachen, krachten die Baumstämme auf der anderen Seite und die rote Wölfin sprang aus dem Wald. Ihre gelben Augen hefteten sich auf die drei Flüchtigen.
Amy wäre beinahe zusammengebrochen. Die Wölfin war schneller als sie!
Wie sollten sie nur entkommen?
Wie als Antwort auf ihre Frage, raschelte es im Baum, und ein blasses Gesicht mit schwarzen Haaren tauchte dort auf. Für einen Moment glaubte Amy, es wäre Eve. Aber es war Lily, die sie zu sich winkte. Samstag lief vor, sprang und verschwand im Geäst. Luca konnte nicht ganz so hoch springen. Lily fasste sein Handgelenk und zog.
Die Wölfin lief um den Baum herum. Amy hatte nur ihr Messer. Ihre Brust hob und senkte sich in schnellem Wechsel. Sie war den Tränen nah.
Der Kopf der Wölfin zuckte leicht zurück und stieß dann vor. Einen Herzschlag später war Amy auf einem niedrigen Ast und die Zähne bohrten sich unter ihr in die Rinde. Sie hatte keine Ahnung, welche Kraft sie auf den Baum gehoben hatte, wohl ihre eigene Verzweiflung. Eine Hand kam aus dem Blätterdach über ihr und zog sie nach oben.
Amy erkannte Miras schmales Gesicht im Halbdunkel.
Der Baum schwankte, als die Wölfin sich dagegen warf.