Auf der Landstraße:
"Da ist die Straße", sagte Milo. Eve atmete erleichtert aus und empfand tiefe Dankbarkeit, als sie endlich auf festen Boden traten. Es gab noch keine Straßenlaternen, doch der erste Schritt in Richtung Zivilisation war getan. Sie merkte erst jetzt, dass ihre Finger ganz steif davon waren, Milo festzuhalten. Sie ließ ihn los.
Amy sah sich in beide Richtungen um. Hinter ihnen glommen gelbe Augen über dem Moor, doch die Wölfe waren ihnen nicht gefolgt. Eve schloss die Augen und atmete die Luft tief ein. Sie schmeckte nach Freiheit.
"Wir müssen weiter gehen, bis wir ein Dorf finden. Oder eine Tankstelle", überlegte Amy laut: "Und dann hoffen, dass wir jemanden anrufen können. Und das Geld für ein Taxi zusammen kriegen."
"Wo sind wir ü-überhaupt?", fragte Liam.
Amy zuckte mit den Schultern und sah sich um: "Wo gibt es in Deutschland denn Torfmoore? Sachsen-Anhalt?"
"Ich hab doch keine Ahnung von Geografie", murrte Eve.
"Wir hatten den gleichen Lehrer", rief Amy ihr in Erinnerung und lächelte schwach: "Ich wünschte mir jetzt, ich hätte mich mehr damit beschäftigt."
"Es gibt auf jeden Fall Moore. Irgendwo im Süden", meinte Liam.
"Ist ja auch egal", meinte Milo und ging voraus: "Gehen wir, bevor noch mehr Geister auftauchen."
"Jetzt glaubst du mir, was?", giftete Liam müde.
Milo seufzte: "Ich weiß nicht, was ich glauben soll."
Eve stieß Milo leicht an, denn sie merkte, dass er wütend wurde. Liam war klug genug, um nicht weiter zu reden. Oder vielleicht war er müde, so wieder jeder von ihnen. Die Taschen geschultert wanderten sie die Straße entlang. Der Mond war inzwischen aufgegangen und beleuchtete ihren Weg relativ gut. Eve vermisste ihr Handy, doch das könnte sie leicht ersetzen, wenn sie erst einmal zu Hause war. Inzwischen wünschte sie sich nichts sehnlicher als das Ende dieser Reise.
Zu beiden Seiten der Straße gab er nur dichten, unheimlichen Wald. Einmal kamen sie an einem Straßenschild vorbei, dass in Richtung des Hotels zeigte. Der Name war verblasst und nicht mehr zu lesen, aber quer über das Schild ging ein Klebestreifen. "Zu Verkaufen."
"Als wäre der Besitzer tot", murmelte Milo und sprach damit aus, was sie alle dachten. Sie hatten nur einen einzigen Menschen getroffen, und der war auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Eve wollte nicht länger daran denken.
Sie liefen bis in die frühen Morgenstunden. Es war kalt, zwischendurch regnete es mehrmals leicht. Eve zitterte und klapperte unglücklich mit den Zähnen. Liam humpelte leicht, Milo wirkte erschöpft und unkonzentriert. Nur Amy ging aufrecht und mit schnellen Schritten vor. Sie bot auch an, ihre Taschen zu tragen. Eves Freundin war förmlich aufgeblüht, als ihr die Führung dieser Gruppe oblag. Die Straße wollte kein Ende nehmen und Eve wäre ohne Amys ständige Ermunterungen schon längst am Straßenrand in sich zusammengesackt, auf die Gefahr hin, dass die Veranstalter der Hell-Hopping-Tour sie finden würden.
Irgendwann hörten sie Motorengeräusch. Erleichtert sahen sie auf, als ihnen ein weißer Kleinbus entgegen kam. Die Jugendlichen winkten und der Bus fuhr an den Seitenstreifen.
Amy trat an das Fenster der Fahrerseite heran: "Entschuldigung? Könnten Sie uns ein Stück mitnehmen? Egal, wohin, Hauptsache, es gibt ein Telefon."
Ein junger Mann lächelte ihnen entgegen. Die Tür öffnete sich automatisch.
"Na klar. Steigt ein. Ich helfe gerne."
Müde kletterte Amy zuerst hinein, dann folgte Liam, dann Milo und Eve als letzte. Sie prallte gegen den Rücken von Milo, der im Eingang stehen geblieben war.
"Fuck", sagte ihr Freund.
Eve hob den Blick und sah Samira, Dimitri, Luca, Samstag und die fünf jungen Frauen, die sie ebenso verblüfft musterten wie sie ihrerseits die anderen anstarrten. Hinter Eve schloss sich die Tür und es erklang ein Klicken wie von einer automatischen Verriegelung.
"Nein!", hauchte Amy.
Eve empfand keine Angst mehr. Es schien unausweichlich, dass sie immer wieder zurückkommen würden. Sie konnten nicht entkommen.
Resigniert, ohne einen Rest von Furcht, ließ sie sich auf einen Sitz fallen.
Der Bus rollte langsam an. Ein weißer Bus, die Fenster vergittert, mit einem weichen, weißen Inneren.
Eve zählte im Kopf nach. Sie fuhren nun zum siebten Hotel. Auf einmal wollte sie nicht mehr wegrennen. Sie würde die letzte Woche auch noch überstehen und danach hätte sie wenigstens eine Geschichte zu erzählen.
Sie lehnte den Kopf an die Kopfstütze und schloss die Augen. Sie hätte es bereut, wenn sie entkommen wären, wurde ihr klar. Sie hatte keine Angst mehr, oder sie war zu müde, um sich noch zu fürchten.