Die Ankunft:
Nach fast fünf Stunden Fahrt verließ der grüne Bus endlich die Autobahn und suchte sich seinen Weg über enge, verschlungene Landstraßen. Evelyn war erleichtert. Die irritierten und spöttischen Blicke der anderen Autofahrer waren ihr zuwider gewesen. Sie war tief in dem abgenutzten Leder ihres Sitzes versunken, wann immer ihnen Lastwagenfahrer hämisch zugewinkt hatten.
Milo hielt beruhigend ihre Hand und lächelte schief. Trotzdem war Evelyn knallrot im Gesicht, ähnlich wie Liam.
Die Reise war eintönig gewesen. Eve hatte aus dem Fenster gestarrt, in dem Versuch, sich abzulenken. Der Regen war heftiger gewesen, und erweckte nun, mit dem Auf und Ab der Landstraße, das Gefühl, in einem großen Meer zu schwimmen.
Luca war während der Fahrt eingeschlafen, ebenso übrigens Dimitri. Amy hatte begonnen, Kreuzworträtsel zu lösen, Liam hatte einen Game Boy aus seinem Rucksack ausgegraben. Evelyn wollte den Akku ihres Handys sparen, das sich über Nacht spontan entladen hatte. Zum Glück konnte sie sich an Milo schmiegen und flüsternd überlegen, wo sie ihren nächsten Urlaub – zu zweit – abhalten würden.
Die Landstraßen boten nun endlich etwas Abwechslung. Felder und Wäldchen glitten vorbei, die Straße wand sich an Gehöften und einsamen Häusern vorbei. Immer wieder machte der Bus einen großen Satz, als er in ein Schlagloch geriet.
Eve sah ein überfahrenes Kaninchen am Straßenrand. Das braune Fell blutverschmiert starrten schwarze Augen in den Himmel. Sie seufzte tief, aus Mitleid mit dem Tier. So sehr sie das Land auch mochte, außerhalb der Stadt waren die Straßen fast immer mit Leichen gepflastert. Habichte kreisten am Himmel und im teilweise dichten Nebel über den Feldern würden sich sicherlich Rehe verstecken. Obwohl alle Fenster geschlossen waren, drang der Geruch nach Gülle in das warme Innere.
„Bäh, was stinkt hier so?“, hörte Eve Samstag von vorne rufen.
Sie mochte den Geruch, oder jedenfalls störte er sie wenig. Sie verbrachte ihre Ferien gerne auf Reiterhöfen oder auf dem Land. Im Hochsommer wäre der Gestank deutlich schlimmer gewesen, so begrüßte sie ihn nur wie einen alten Freund.
Die Stille im Bus war fast mit Händen zu greifen. Der gedrungene Doppeldecker war für deutlich mehr als 13 Personen ausgelegt. Zwar hatten sich alle Gäste in den oberen Bereich zurückgezogen, allerdings saßen sie so weit verstreut, dass sie die anderen kaum wahrnahmen. Dimitri und Samira saßen ganz hinten, der Russe schien langsam durch die Schlaglöcher aufzuwachen. Samstag und die fünf Mädchen hatten die vordersten Plätze belegt, Eve und ihre Freunde notgedrungen die Mitte.
Reihe und Reihe leerer Sitzreihen standen schweigend zwischen ihnen. Nur Samstag redete so laut, dass seine Stimme durch den ganzen Bus trug, die anderen redeten gedämpft.
Die eintönige Landschaft zog vorbei. Eve lehnte ihr Gesicht an das kalte Glas und beobachtete den weißen Fleck, den ihr Atem darauf zurück ließ. Sie fröstelte. Der strömende Regen trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich auf das nächste Hotel freute. Im Moment wünschte sie sich eher eine Heizung.
Als der Bus langsamer wurde, öffnete Eve die Augen. Sie musste für eine Weile eingeschlafen sein. Jetzt sah sie, dass der neongrüne und knallpinke Bus vor einem großen Eisengitter zum Halten gekommen war. Mit laufendem Motor wartete er dort. Evelyn befürchtete schon, sie müssten aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß im Regen zurück legen, doch dann öffnete sich das Tor automatisch, und der Bus tuckerte hindurch.
Ein verfallener Garten voller knorriger Bäume umgab den schlammigen Weg, den sie jetzt nahmen. Durch die tiefen Pfützen kam der Bus nur schwerlich vorwärts. Evelyn hörte den Busfahrer leise fluchen. Sie rechnete jeden Moment damit, dass ein Rad stecken bleiben würde.
Doch sie erreichten den Platz vor dem Hotel ohne Probleme. Nach dem verwilderten Wald mit alten Baumhäusern und abgedeckten Brunnen hatte Evelyn ein altes Herrenhaus erwartet, doch das Hotel sah erstaunlich modern aus. Es war ein eckiges und verwinkeltes Gebäude, das wirkte, als habe ein Kind wahllos Bauklötze aufeinander gebaut, ein Architekt dies gesehen und sofort nach gebaut.
Mal stand ein Klotz vor, hier ragte ein viereckiger Turm in die Höhe, dort war ein spitzwinkliger Balkon zwischen hohen Mauern eingefasst, bei dem sich Evelyn nicht vorstellen konnte, wie man ihn erreichen sollte.
Das Gebäude war geschmacklos in Rot und Grün gestrichen. Wilde Jahrmarktsmonster überzogen die Fassade, leuchtendes Blut schien aus den Fenstern zu laufen, und die Türen hatten hungrige, lauernde Augen.
Der Bus hielt. Als sich die hintere Tür öffnete, stiegen Dimitri und Samira als Erste aus und liefen unter den Schutz eines kleinen Vordaches, dicht gefolgt von Evelyn und den anderen. Fröstelnd warteten sie darauf, dass sich die Tür öffnete, während der Busfahrer ihre Koffer auslud und achtlos in den Regen warf.
Auf ihr Klopfen und auch auf die Klingel reagierte Niemand. Evelyn trat einen Schritt zurück, schirmte ihre Augen gegen den Regen ab und sah an dem Gebäude hinauf. Leere Fenster, die Rahmen in grellen Farben gestrichen, blickten zurück. Ein grüner, verzerrter Schriftzug verkündete, dass sie vor dem „Hotel Fear“ standen. Ein Schild darunter pries den „ersten Indoor-Erlebnispark für Erwachsene und Gruselfans“ an.
Plötzlich sah Evelyn einen Schatten in einem der Fenster. Als sie den Blick hob, huschte eine Gestalt zur Seite, zu schnell, als dass sie Einzelheiten erkennen könnte. Nervös trat sie zurück unter das Vordach.
„Sagt mal“, meinte Amy besorgt: „Wo ist eigentlich Luca?“