Das letzte Hotel:
Luca und der Rest folgten Brandon aus dem kleinen Esszimmer. Luca schöpfte endlich wieder Hoffnung. War wirklich alles nur eine Show gewesen? Hatten sie sich so leicht täuschen lassen? Wenn er jetzt zurück dachte, hatte er niemals überprüft, ob die Leichen echt waren. Vielleicht besaß die Tour gute Maskenbildner.
Er erinnerte sich an Fays zerrissenen Körper. Nur eine Requisite? Es hatte alles so echt gewirkt! Andererseits war er müde gewesen, so müde, dass es die gleiche Wirkung wie Alkohol und Drogen entfalten könnte.
Brandon führte sie aus dem Hotel nach draußen. Es war ein erstaunlich warmer Tag, obwohl sich am Horizont bereits die nächsten Regenwolken zeigten. Hotel Waldesruh lag abgeschieden am Rand eines kleinen Wäldchens. Es waren keine dunklen Tannen, sondern farbenfrohe Laubbäume. Eine Straße führte nah am Haus vorbei, und auf der anderen Seite dieser Straße stand ein kleiner Schuppen. Dorthin brachte Brandon sie.
Luca spürte, wie sein Herz ungewollt höher schlug. Er fürchtete sich. Konnten dort wirklich Liam und alle anderen auf sie warten?
War es wirklich vorbei?
Brandon entriegelte die schwere Tür und zog das Tor auf. Luca und die anderen spähten in das düstere Innere. Samstag schaltete eine Taschenlampe an. Der Lichtfinger fand ein Bein auf dem Boden, das in einem Turnschuh steckte.
"Liam!", rief Luca, der den Fuß sofort erkannte.
Die anderen stürmten in die Scheune. Amy kniete an Liams Seite, um den Jungen wachzurütteln.
Aber Liam rührte sich nicht. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten an die Decke.
"Liam!", schrie Amy.
Hinter ihnen fiel das schwere Tor ins Schloss. Dunkelheit füllte den Schuppen bis auf Samstags Taschenlampe. Sie hörten, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
"Nein!", heulte Luca auf. Er sprang auf die Füße und warf sich gegen das dunkle Holz. Dann hämmerte er mit den Fäusten dagegen: "Warum tun Sie das?"
"Ihr wollte eine Erklärung?", ein kleines Fenster öffnete sich und Brandons Gesicht tauchte dahinter auf. Die vergitterte Lücke war zu klein, um auch nur die Hand hindurch zu stecken.
Brandon grinste, doch jetzt wirkte sein Lächeln diabolisch: "Warum wir das tun? Ihr wolltet doch eine Horrortour. Und die habt ihr bekommen."
"Ihr Monster!", rief Samstag und schlug gegen das Holz: "Ihr habt sie alle umgebracht!"
"Ja, Alle", sagte Brandon: "Und wir werden auch euch töten. Ihr wisst zu viel über uns, besonders dein kleiner Zirkus, Samstag. Aber wisst ihr - vielleicht kann euch die Leitung das alles besser erklären - meine Schwester."
Brandon trat zur Seite und ein anderes Gesicht erschien in dem winzigen Viereck. Luca schnappte nach Luft. Irritiert sahen sich die Eingesperrten im Inneren der Scheune um und sahen in die Gesichter der anderen. Sie waren zu fünft eingesperrt.
Samira auf der anderen Seite der Tür lächelte breit.
"Du!", zischte Samstag. "Ich hab's gewusst!"
"Und nichts getan", sagte Samira selbstgefällig: "Wie dumm von dir!"
"Was wollen Sie mit uns?", fragte Amy laut.
"Das wisst ihr doch!", sagte Samira mit gespieltem Erstaunen und legte den Kopf schief. Ihr Gesichtsausdruck war fast mitleidig. Fast.
"Wir brauchen euer Blut. Es gibt so viele Monster auf der Welt, und wir müssen so sehr aufpassen, dass wir nicht getötet werden. Von Leuten wie ihm da", sie deutete auf Samstag: "Also dachten wir uns, wir verbünden uns. Dreizehn der größten Familien haben sich zusammengesetzt und diese Tour entworfen. Und das Futter fließt!"
"Was seid ihr?", fragte Amy mit schwacher Stimme. Luca sah, wie sie in die Knie sank. Er fühlte sich ähnlich. Die Hoffnung, die nun zerplatzt war, hatte ihnen jede Kraft genommen.
"Wir sind die Alpträume eurer Märchen", erklärte Samira: "Geister, Werwölfe, Wendigowak, Vampire, Weiße Frauen, alles mögliche. Und natürlich Dämonen. Die Wesen, die sich von Menschen ernähren. Wir trinken eure Angst, eure Tränen, euer Blut. Wir essen euer Fleisch und eure Seelen."
Samiras Lächeln hatte etwas Spitzes: "Und jetzt ist es soweit, dass ihr euch auch von euren Seelen trennt."
Brandon legte Samira eine Hand auf die Schulter, vertraulich wie Bruder und Schwester: "Du bist ungeduldig, Sami. Sie schmecken besser, wenn man sie eine Weile köcheln lässt."
Samira überlegte, dann zwinkerte sie Luca durch das kleine Fenster zu: "Versucht ruhig, zu fliehen. Es gibt keinen Ausweg. Aber ihr schmeckt besser, wenn ihr kämpft."
Das Fenster wurde zugezogen. In der Finsternis sank Luca auf den Boden. Er merkte, dass er weinte. Für einen Moment hatte er es geglaubt, hatte erwartet, gleich auf Liam zu treffen. Es war, als würde er alle seine Freunde noch einmal verlieren.
Schluchzend verbarg er das Gesicht in den Händen.
"Deswegen", murmelte Samstag.
Luca sah auf. Der junge Mann hatte die Taschenlampe angeschaltet, sein Gesicht wirkte unnatürlich bleich: "Deswegen habe ich es nie verstanden. Weil es so viele Monster waren!"
"Es gibt tatsächlich Monster!", sagte Amy tonlos.
"Ja", sagte eine heisere Stimme, die nicht einem der fünf gehörte.
Erschrocken wichen die Gäste an die Tür zurück. Sie hörten ein Rascheln, als sich etwas Großes bewegte. Samstag und Mira leuchtete in die geräumige Dunkelheit. Die Lichtstrahlen fanden die Leichen ihrer Freunde, die einen übelkeitserregenden Geruch verströmten. Fliegen surrten in der Dunkelheit.
Und dann traf das Licht auf ein Gesicht, ein blasses, schmales Gesicht mit zusammengekniffenen Augen und einer entstellenden Schwellung auf der Seite.
Alle fünf wichen zurück, als das Wesen auf sie zu kroch. Ein Dämon, gekommen, um ihre Seelen zu verschlingen. Aber es gab keinen Ausweg.
"Es sind zu viele Monster", sagte die heisere Stimme. Luca sah, dass das Wesen weinte.
"Und wir sind zu schwach!"
"Lily!", hauchte Samstag entgeistert. Er streckte die Hand aus und das bleiche Wesen ergriff sie und sackte wie kraftlos zusammen: "Ihr seid es wirklich!"
Es war wirklich Lily, obwohl Luca sie niemals erkannt hätte. Das ordentliche Kostüm in Schwarz, das einer Geschäftsfrau gehören könnte, war zerknickt, die schwarzen Haare hatten sich aus dem Dutt gelöst. Lily lag zitternd auf dem Boden, während Samstag sie langsam in seine Arme zog.
"Ich wollte zu Tee-jo!", weinte Lily: "Aber sie haben mich gefangen."
"Schsch", machte Samstag: "Es ist schon gut."
Luca schluckte.
"Es war Samira. Die ganze Zeit über", schniefte Lily: "Sie war so unauffällig. So geschickt! Ich war so blind."
"Wir waren alle blind", sagte Samstag: "Sie war eben besser darin, zu täuschen und zu lügen. Und sie hat sogar den Namen getragen: Samhain. Sie war so … dreist!"
"Sollten es nicht drei Verräter sein?", fragte Amy misstrauisch.
Samstag schüttelte den Kopf: "Vermutlich nicht. Ich glaube, das war ein Trick, um Misstrauen zu säen. Scheiße, wären wir nur misstrauischer gewesen!"
Sie waren zu sechst. Irgendwo in der Dunkelheit lagen sechs Leichen. Luca drehte sich der Magen um, als er sich fragte, ob auch Fay hier war - und wie viel von ihr.
"Geht nicht weiter in den Schuppen", flüsterte Lily, wie, um seine Befürchtungen zu bestätigen.
Samstag sah plötzlich auf, Entschlossenheit im Gesicht: "Doch. Wir müssen hier raus. Noch gibt es Hoffnung!"
Die anderen sahen den jungen Mann an. War er verrückt geworden?
Samstag stand auf: "Aufgeben können wir, wenn wir tot sind. Kämpfen wir um unser Leben!"
Zögernd folgten die anderem ihm auf die Beine.