Die letzte Hürde:
Evelyn zögerte. Der Turm wuchs vor ihr in die Höhe. Aber um zu ihm zu gelangen, musste sie einen großen, leeren Platz überqueren. Ein großer Platz von vielleicht fünfzig Metern Länge, mit einem kleinen Brunnen in der Mitte. Die Gebäude am Rand standen dicht an dicht. Und es gab keinen anderen Weg zu dem Turm, neben dem ein schmaler Weg zum Tor führte.
Eve konnte das Rollgitter bereits sehen, ihren Ausgang. Dahinter wäre sie sicher.
Aber sie traute dem Platz nicht. Im Schatten eines Toilettenhauses ging sie in die Knie. Sie zitterte und ihr rascher Atem hatte schon mehr mit einem Heulkrampf gemein. Sie hatte keine Kraft mehr.
Schon nach wenigen Minuten war es ihr aufgefallen: Die Gebäude am Platz waren nicht verlassen. Zwar zeigten sich die Bewohner niemals im Sternenlicht, doch Eve sah die Bewegung in der Dunkelheit. Sie wusste, dass der Platz beobachtet wurde.
Es war die letzte Falle, der letzte Trick. Es gab keinen Ausgang, denn er war versperrt. Nur drei Wege führten auf den Platz, der Turm stand auf der anderen Seite des länglichen Ovals.
Eve sah auch, wie sich an einem der Eingänge etwas bewegte. Sie wollte zurückweichen und merkte einen Augenblick zu spät, dass die hastige Bewegung erst die Aufmerksamkeit der Menschen erregte.
Doch es waren Luca, Samstag und Mira, die sich vorsichtig dem Platz genähert hatten. Luca winkte ihr, zu ihnen zu kommen.
Eve schüttelte heftig den Kopf. Auch Samstag legte Luca eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Eve hörte Bewegung hinter sich. Sie wirbelte herum, ihr Herz blieb stehen.
Etwas sprang sie an und umklammerte sie. Eve wollte schreien, da hörte sie die Stimme: "Eve!"
"Amy!", stieß sie erleichtert aus, als sie ihre Freundin erkannte. Sie erwiderte die stürmische Umarmung und fasste in etwas Nasses.
"Du blutest!"
"Nein. Nein, es ist von Wild Child", Amy weinte und ließ Eve los: "Lass uns gehen!"
"Nein", flüsterte Eve, die sich daran erinnerte, dass sie nicht in Sicherheit waren: "Der Platz wird bewacht."
Amy ließ sich mit dem Rücken gegen das Haus auf den Boden sinken: "Das ist nicht wahr, oder? Was tun wir jetzt?"
"Ich weiß nicht", sagte Eve und kauerte sich neben sie.
Einen Moment saßen sie so nebeneinander. Eve wischte die blutige Hand an der Hose ab, aber selbst die Übelkeit kam nicht gegen die Verzweiflung an. Es gab kein Entkommen. Es war alles umsonst gewesen!
"Sieh mal", sagte Amy und deutete auf den Himmel: "Die Sonne geht auf."
Eve folgte der Geste mit dem Blick. Tatsächlich zeigte sich der erste rote Hauch über dem Horizont.
"Wann werden wir abgeholt?", fragte sie elend.
Amy reckte den Hals um die Ecke des Hauses: "Da steht ein Auto."
"Oh nein!", jammerte Eve: "Wir werden hier sterben."
"Vielleicht schlafen sie irgendwann", meinte Amy: "Vielleicht haben wir noch Zeit."
Sie hatten keine Zeit mehr. Eine Bewegung weckte Eves Aufmerksamkeit. Als sie aufsah, entdeckte sie Samira. Die Frau trat ohne Furcht auf den Platz hinaus.
"Nein!", schrie Eve. Auch Amy sprang auf: "Samira, nein! Zurück!"
Doch es war zu spät. Die Türen schlugen auf. Clowns in der seltsamen, grauen Kleidung, die an ein Irrenhaus erinnerte, strömten auf den Platz.
"Lauft!", befahl Samstag am anderen Gang und seine Gruppe folgte ihm auf den Platz.
Amy sprang auf und folgte den anderen.
Eve blieb sitzen. Für einen Moment schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf. Sie könnte hier warten und zusehen, und würde darauf hoffen, dass ihre Freunde alle Clowns aus deren Verstecken lockten. Dann, wenn die Gegner abgelenkt wären, würde Eve alleine über den Platz huschen unsichtbar und lautlos, und diesem Alptraum endlich entkommen.
Einen Herzschlag später erschrak sie über sich selbst, und dann rannte sie schließlich los.
Sie war ein ganzes Stück hinter den anderen fünf, die sich zu einer kleinen Gruppe zusammengeschlossen hatten. Die Clowns waren jetzt überall, wie auch am Anfang. Doch jetzt waren sie näher. Hände grabschten nach Eve, stinkender Atem wehte ihr ins Gesicht. Sie kratzte und schlug nach allen Seiten, um die Feinde abzuwehren. Jemand stellte ihr ein Bein, ein anderer zerrte an ihren Haaren. Eve schrie wütend.
Sie kämpfte sich aus der schlimmsten Menge heraus und rannte vor der Horde. Einige Clowns liefen auf gleicher Höhe mit ihr, die Gesichter verzerrte, verschwimmende Fratzen. Die anderen fünf liefen etwas langsamer und warteten auf Eve. Wie genau die anderen den Mut dazu aufbrachten, konnte Eve nicht sagen.
Sie trafen bei dem Brunnen in der Mitte des Platzes aufeinander. Vor und hinter ihnen brandete das graue Meer auf sie zu, eine kichernde, wahnsinnige Flutwelle. Es waren so viele, dass Eve Panik bekam. Diese Wesen wollten ihr Blut.
"Kämpft!", schrie Samstag.
Wie von selbst sprang das Messer in Eves Hand. Und das Gemetzel begann.
Schon während sie kämpfte, verdrängte sie das Geschehen. Alles wurde zu bunten Wirbeln, Farbklecksen in einem verwischten Gemälde, fortgeschwemmt wie Spuren im Sand. Eve schlug und stach um sich, wich Angriffen aus und versuchte in dem Chaos, ihre Freunde zu finden. Schon nach wenigen Sekunden hatten sie einander verloren. Rufe drangen über den Schlachtlärm, aber keiner erreichte Eve.
Es war ein Alptraum. Jeder war auf sich gestellt. Eve wusste nicht, wer noch lebte, sie wusste überhaupt nichts mehr. Sie weinte, während sie kämpfte. Die Angst machte sie taub und blind - vermutlich hätte sie ihre Freunde eher erstochen als erkannt.
Und dann stand sie plötzlich vor dem weißen Tor, etwas mehr als doppelt Mannshoch, mit weißen, senkrechten Streben.
Sie hatte den Ausgang erreicht. Doch es gab kein Durchkommen.