Aufbruch:
Luca starrte aus der Fensteröffnung des rostigen Busses. Winzige Tropfen Regen nieselten auf ihn herab und glitzerten bereits in den Haaren der anderen. Die elf, die von der Tour noch übrig waren, schwiegen. Wie ein dunkles Tuch lastete die Angst über ihnen, beinahe mit Händen zu greifen.
Luca hatte hin und her überlegt. Gab es mehrere Hütten im Wald, und hatte es deshalb den Anschein gehabt, dass sie nicht entkommen könnten? Aber wie hatte dann der Wagen überall auftauchen können und wieso war Milos Stofffetzen am Bus geblieben? Wer baute überhaupt fünfzig identische Hütten in einen Wald?
Wenn die Anderen nicht genau die gleiche Erfahrung gemacht hätte, müsste er jetzt an seinem Verstand zweifeln.
Luca schreckte aus seinen Gedanken auf, als sich Fay neben ihn setzte. Das Mädchen und der Rest ihrer Gruppe schien als einzige einen kühlen Kopf zu bewahren, obwohl auch sie besorgt wirkten. Sie lächelte ihn schüchtern an, eine Geste, die beinahe hinter dem Vorhang glatter, heller Haare verschwand.
"Kommst du kurz mit?", fragte sie leise.
Sie nickte zum hinteren Teil des Busses. Luca folgte ihrem Blick und sah Samstag lässig auf der Rückbank faulenzen. Der junge Mann bemerkte Lucas Blick und klopfte mit der Hand auf den freien Sitz neben sich.
Luca stand vorsichtig auf und manövrierte sich durch den schwankenden Bus nach hinten. Fay folgte ihm und setzte sich in die Reihe vor Samstag und Luca. Das Ganze wirkte ein wenig, als wäre Luca zu einem Mafiaboss eingeladen.
Samstag streckte ihm einen Müsliriegel entgegen.
"Was?", fragte Luca.
"Nimm", sagte Samstag. "Der Fahrer kann uns im Rückspiegel sehen."
Er klopfte Luca wie tröstend auf die Schulter, nachdem dieser den Riegel entgegen nahm. Er bemerkte, dass Mira aufstand, die große Schwester von Fay, und sich neben Samira setzte, die aus dem Fenster starrte. Es sah aus, als würde die junge Frau die Ältere trösten, aber Luca sah, wie sich ihre Lippen schnell bewegten. Er sah wieder zu Samstag: "Was läuft hier?"
"Gruppentherapie", meinte dieser und setzte im krassen Gegensatz zu seinem humorvollen Ton eine mitleidige Miene auf: "Sie wird euch helfen, das schlimme Trauma zu überwinden - und übrigens auch, nicht zu sterben. Pack den Riegel aus."
Luca öffnete den Müsliriegel. Es war ein Riegel aus Haferflocken, mit winzigen Stücken Schokolade.
"Ich habe keinen Hunger", sagte er.
"Iss", befahl Samstag und Luca biss gehorsam in den Riegel hinein.
"Au."
"Haarnadeln. Stech dich nicht daran", erklärte Samstag verspätet. "Du solltest sie immer bei dir tragen. Mit ein bisschen Probieren kannst du damit so ziemlich alle Schlösser knacken."
Luca starrte den Riegel an. Er hatte die Spitze abgebissen und seine Zähne waren auf drei dünne Metallstäbe im Inneren getroffen.
Er betastete seine Schneidezähne und suchte nach Macken, für die er Samstag hassen könnte.
Dessen Blick huschte kurz zum Fahrer, dann machte er eine schnelle Armbewegung und hielt im nächsten Moment ein Klappmesser in der Hand. Luca konnte nicht verhindern, dass er scharf einatmete. Er war so weit, alles zu glauben, auch, dass Samstag ihn hier und jetzt erstechen könnte.
Doch der junge Mann ließ das Klappmesser geschickt in Lucas Tasche gleiten.
"Wie man mit sowas umgeht, weißt du, ja? Das spitze Ende muss in den Gegner. Und wenn der dadurch nicht langsamer wird, rennst du."
Luca nickte und nahm trotz der Haarklammern einen weiteren Bissen von dem Müsliriegel. Er hatte doch Hunger.
"So, und das hier ist ein Sender", erklärte Samstag und hielt eine Armbanduhr vor Luca: "Wenn du ihn trägst, können wir dich überall finden."
"Das ist eine Uhr", sagte Luca. Samstag gab sich nicht einmal die Mühe, das Gerät vor dem Fahrer zu verbergen. Es war eine schwarze Sportuhr, wasserdicht, wie der breite Rahmen verkündete. Die digitale Anzeige gab die Uhrzeit, den Tag, die Woche und das Jahr, sowie die Uhrzeit in New York City an.
"Es sieht aus wie eine Uhr. Ist aber verwanzt. Und wenn du hier drauf drückst, hast du ein Funkgerät. Jeder von uns wird dich hören können, oder wenigstens eine Benachrichtigung erhalten, denn zur Zeit sind alle Uhren stumm geschaltet.
Luca drückte den Knopf und sagte: "Hallo?"
Samstag hielt ihm seine eigene Armbanduhr vor die Nase, auf der ein roter Punkt aufblinkte, unter dem eine Nummer stand.
"Deine Uhr ist Nummer Sechs", erklärte Samstag leise.
Luca sah sich in dem kleinen Bus um. Samstags Begleiterinnen hatten sich unauffällig verteilt und saßen tröstend neben seinen Freunden und Samira.
"Du gibst uns allen sowas?", fragte er Samstag.
Der nickte: "Wir wissen noch immer nicht, wer die Verräter sind, aber noch besteht die Chance, sehr viele Unschuldige zu retten."
"Hättest du das nicht früher tun können?", fragte Luca bitter, der an den verschollenen Liam dachte.
Samstag schüttelte den Kopf: "Sender an Zivilisten auszugeben ist verboten. Ich riskiere Kopf und Kragen. Tut mir leid, dass ich das nicht früher wagen sollte."
"Warum jetzt?", fragte Luca.
"Weil ihr keine Zivilisten mehr seid", erklärte Samstag: "Ihr seid jetzt mittendrin."
Lucas Uhr vibrierte und ein kleiner, roter Knopf blinkte auf. Er drückte vorsichtig dagegen und ein winziger Schriftzug verdrängte die Uhrzeiten. „Hey!“, stand da. Also Luca aufsah, grinste Fay ihn an.