Jenseits von Zeit und Raum:
Sie waren zu fünft in der Krone des mächtigen Baumes. Luca saß auf einem der niedrigen Äste, die Arme um den Stamm geschlungen, damit er nicht bei einer der Erschütterungen fiel. Unter ihnen tobte die Wölfin wie rasend. Jeder Schlag ging Luca durch die Knochen. Er biss die Zähne aufeinander.
Die anderen waren blass geworden. Lily und Samstag saßen nicht weit entfernt, Mira und Amy ein wenig um den Stamm herum.
"Was tun wir jetzt?", fragte Mira leise.
"Sie wird den Baum umstürzen!", rief Amy: "Wir müssen etwas tun! Schnell!"
Samstag sah nach unten. Versuchsweise bewegte er die Arme und stellte etwas an seiner Uhr ein. Nichts geschah.
"Sie unterdrückt jedes Tor", erklärte er: "Wir können nichts tun."
Luca spürte, wie sich jedes Haar an seinem Körper aufstellte: "Wir geben auf? Nach allem?"
"Wir können nichts tun", schrie Samstag ihn an: "Wir müssen von Samira weg, um ein Tor zu öffnen."
Der Baum neigte sich mit einem Ruck zur Seite.
"Nein!", rief Luca. Er wollte nicht aufgeben. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er hatte nicht die ganze Zeit gekämpft, um jetzt zu sterben. Wie alle anderen Gäste der Tour zuvor.
Hilflos ballte er die Hände zu Fäusten: "Sie kriegt uns nicht! Es muss einen Ausweg geben!"
"Ich - keine Ahnung", sagte Samstag. "Denkt nach. Wir müssen hier weg. Oder Samira muss weg!"
"Was ist mit einem Exorzismus?", fragte Mira.
"Wirkt nicht", rief Samstag zurück: "Sie ist zu stark."
Wieder ruckte der Baum. Die fünf Gefangenen schrien vor Schreck laut auf.
"Es gibt einen Weg", sagte Lily so leise, dass Luca sie fast überhörte. Ihr Gesicht war totenbleich.
"Was meinst du?", fragte Samstag.
"Samira muss nicht weg. Vielleicht reicht es, wenn sie abgelenkt wird", sagte Lily.
Luca verstand nicht, worauf sie hinaus wollte. Samstag aber sprang plötzlich vor und schrie: "Nein!"
Lily ließ sich aus dem Baum fallen. Luca blieb das Herz stehen, als die junge Frau, das Messer in beiden Händen, auf dem breiten Kopf des roten Wolfes landete. Mit einem wortlosen Schrei hob Lily die Waffe und stieß zu, direkt in das Auge des Raubtiers.
Der Wolf jaulte so laut auf, dass Luca meinte, ihm würde das Trommelfell platzen. Samstag, der entsetzt Lilys Namen schrie, ging in dem Gebrüll unter.
Sie waren wie vom Donner gerührt. Regungslos sahen sie zu, wie Lily ihren aussichtslosen Kampf gegen die Wölfin führte. Das Mädchen war blutüberströmt, von der rasenden Wölfin beinahe in Stücke zerfetzt, als Samstag sich endlich regte.
Plötzlich leuchtete etwas neben Luca auf. Goldenes Licht in einem Ring, ein Tor. Samstag packte ihn und schleuderte Luca hindurch wie eine Puppe.
Auf der anderen Seite war es still, so als würde alles andere nicht existieren. Plötzlich gab es nichts mehr, keine Geräusche, keinen Wind, keine Kälte oder Wärme. Luca trieb durch die Stille, erstarrt wie ein Kaninchen, die Augen weit aufgerissen, ohne etwas anderes als goldenes Licht zu sehen. Es gab keine Konturen, keine Fixpunkte, keine Formen, keine Farben, keine Schatten.
Er trieb durch die Leere ohne Orientierung. Es gab kein Oben oder Unten. Es gab nur ihn und das goldene Nichts.
Dann stolperte er, als er plötzlich festen Grund unter den Füßen hatte. Er fiel auf die Knie und spürte kaltes Gras und feuchte Erde. Er grub die Finger hinein.
Als er aufsah, fand er sich auf einem Feld wieder. Über ihm zogen Wolken vor den Sternen vorbei. In der Ferne hörte er Motorengeräusch.
Er blieb nicht lange allein. Nur einige Herzschläger später tauchten Mira und Amy aneinander geklammert aus dem Nichts auf. Die Mädchen fielen neben Luca in den Schlamm. Amy sah sich sofort wild um: "Wo ist die Wölfin?"
"Wir sind in Sicherheit", sagte Mira: "Hier gibt es keine Dämonen."
Und dann wiederholte sie den ersten Satz immer wieder: "Wir sind in Sicherheit."
Als Letzter tauchte Samstag auf und rollte neben sie. Auf dem Rücken liegend keuchte er. "Das Tor ist zu."
Sie brachen im Dreck zusammen. Die vier, die entkommen waren, hielten sich fest. Sie weinten in den Armen der Anderen oder in den Schlamm. Luca hatte keine Kraft mehr, um die Tränen aufzuhalten. Er konnte nicht glauben, dass sie entkommen waren. Er konnte nicht einmal mehr denken. Alle Dämme brachen.
"Es ist vorbei!", keuchte er.
Niemand antwortete.
Aber es war endlich vorbei.