In der Dunkelheit:
Luca spürte, wie seine Hände feucht wurden. Schritt für Schritt folgte er seinen Freunden in die Dunkelheit, tastete sich blind vorwärts und spürte, wie die Luft immer dicker zu werden schien. Luca hatte eine lebhafte Fantasie. Vor seinem inneren Auge sprangen ihn Werwölfe und Gespenster an, wurden Schatten zu Monstern mit Reißzähnen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Und er musste grinsen. Spannung. Er liebte es so sehr. Nach den ersten Sekunden wurde die Angst zu seinem Freund. Adrenalin schoss durch Lucas Körper und machte ihn wach. Seine Augen weiteten sich, er sah im Dämmerlicht die ersten Schatten. Er roch Rauch, konnte schweres Atmen hören.
Amy und Milo gingen direkt vor ihm, Liam hatte sich hinter ihm gehalten, und Eve war ein Stückchen hinter Milo, also fast neben Luca. Währenddessen ging Samstag mit seinem schweigenden Gefolge voraus, und Dimitri kam hinter ihnen. Luca konnte den alten Russen riechen, der einen seltsamen Geruch abstieß. Faulig, süßlich, irgendeine Mischung aus beidem.
Ein langer Flur führte die Gäste in einen abgedunkelten Raum. Schwaches Licht aus verhängten Lampen machte die Ausmaße gerade eben erkennbar. Es war schon fast ein kleiner Saal, etwa 20 Meter im Durchmesser, vielleicht mehr. Vier Gänge gingen von dem Raum ab, einer davon war der, aus dem sie gerade kamen. Alle Gänge waren versperrt von Personal mit Masken und Schminke, das in zwei Reihen vor jedem Durchgang stand.
Unsicher traten alle 13 in die Mitte des Raumes und drängten sich dort zu einer Traube zusammen. Luca suchte unablässig das Zwielicht ab, hielt Ausschau nach Gefahr und versuchte, etwas anderes als die Schatten der Menschen zu erkennen.
Irgendwo knackte es, nicht laut, aber so plötzlich, dass alle zusammenzuckten. Erst danach erkannte Luca das Geräusch als einen Lautsprecher, der offenbar angeschlossen wurde.
Das Personal stand stumm und starr wie Statuen. Im gedimmten Licht tauschten Luca, Liam, Amy, Milo und Eve Blicke.
„Durch Lüfte hört ich ohne Sternenlicht,
Viel Seufzer, Klagen, und viel Jammerweise,
Daß Tränen rollten über mein Gesicht.“
Die Worte kamen dunkel und verzerrt aus unsichtbaren Lautsprechern, schienen überall ihren Ursprung zu haben. Luca verspürte eine Gänsehaut, die über seinen Rücken kroch. Er tastete nach seinen Freunden, doch er fasste ins Nichts.
„Es stöhnt' und lallt' gar fürchterlich im Kreise,
Den Klatschen, Stimmgewirr, Geschrei durchschwirrt',
Und Weh- und Wutgeheul, bald laut, bald leise.
Im Aufruhr, welcher endlos und verwirrt,
Die Luft umkreist in zeitlos schwarzen Landen,
Dem Sande gleich, der umgewirbelt wird.“*
Die letzten Worte gingen in Schreien unter, von denen Luca nicht sagen konnte, ob sie aus den Lautsprechern oder von seinen Freunden stammten. Bewegung herrschte um ihn herum, Menschen rempelten ihn an, rissen an ihm, wirbelten ihn im Kreis. Mit einem verzweifelten Satz befreite sich Luca aus dem Tumult, und rettete sich in den schwachen Lichtschein einer Lampe. Er konnte sehen, dass die Flure jetzt frei waren, und dass die Bediensteten ihre Posten dort verlassen hatten.
In der Mitte des Raumes schien die Apokalypse ausgebrochen zu sein, oder wenigstens eine Massenhysterie. Mit offenem Mund starrte Luca auf das Gewirr aus Menschen, durch das die dämonischen Bediensteten sprangen, lachend, heulend und laut schreiend. Seine Freunde konnte er in dem Tumult nicht mehr ausmachen.
Als er sich zur Seite wandte, um sich in einen der Flure zu retten, bemerkte er erst die Gestalt, die lässig an der Wand neben ihm lehnte. Luca fuhr zusammen, besorgt, dass er den Fremden nicht bemerkt hatte. Erst, als sie ihm das Gesicht zu wandte, erkannte er Samira.
„Sie geben sich ja alle Mühe“, sagte die junge Frau: „Aber wirklicher Horror ist das noch nicht.“
Luca nickte langsam und sah zurück auf das Gewirr: „Ich finde es ziemlich unheimlich“, kommentierte er.
Samira zuckte mit einer Schulter: „Du findest es nicht unheimlich, du findest es … hmm, grausam. Dimitri könnte dir bestimmt ein passenderes Wort nennen. Unheimlich jedenfalls ist anders, ganz anders. Das hier ist purer Wahnsinn.“
Luca musste zugeben, dass Samira recht hatte. Als er sich wieder zu der Frau umdrehte, lächelte sie breit: „Keine Sorge, es wird noch spannender. Jetzt testen sie nur, wie belastbar wir sind und sortieren die mit den schwachen Nerven aus. Alles Sicherheitsmaßnahmen. Und jetzt entschuldige mich, ich muss Dimitri retten.“
Mit diesen Worten verschwand Samira in der Dunkelheit, als könne sie sehen. Luca zögerte er einen Moment, dann fand er ihre Idee nicht so schlecht und machte sich auf, um die restlichen vier zu suchen.
Als die Freunde wieder zusammen waren, war auch das Chaos verklungen. Stille kehrte ein, irgendwo quietschte eine Tür. Noch immer war es stockdunkel. Luca ging dem Geräusch nach, gefolgt von den vier anderen. In der Tür angekommen mussten sie feststellen, dass Samstag bereits dort war, ebenso seine fünf Begleiterinnen. Der Raum war genauso dunkel, vielleicht sogar noch schwärzer, denn hier schien kein Licht zu brennen. Weiterhin wurde die „Göttliche Komödie“ aus Lautsprechern zitiert, die Luca nicht entdecken konnte. Sie wanderten langsam durch den dunklen Raum und bahnten sich ihren Weg um Stühle, Tische und andere Hindernisse herum. Die Tür, durch die sie den Raum betreten hatten, fiel hinter Samira und Dimitri mit einem Knall ins Schloss. Dafür öffnete sich knarrend eine andere Tür.
Luca war sich sicher, dass sie beobachtet wurden, über Nachtsichtgeräte oder Wärmebildkameras. Während er sich von Raum zu Raum tastete, war er sich dieser Tatsache überaus bewusst. Das gab ihm ein wenig Halt und beruhigte ihn, immerhin würde ihm jemand helfen, falls er sich verletzen sollte.
Sie schlichen durch eine Tür, dann durch eine weitete. Nach sechs Räumen hatte Luca jede Orientierung verloren. Die Reise durch die Dunkelheit ging weiter, zermürbend und langweilig. Er hatte längst keine Angst mehr, dass ihn etwas anfallen konnte. In Gedanken verfluchte er Samira. Man durfte nicht darüber nachdenken, dann war es spannender.
So wartete er nur darauf, dass die dunklen Räume ein Ende finden würden. Das leise Wispern aus den Lautsprechern begleitete ihn, dazwischen ertönte Wolfsgeheul, ein Klicken wie von Scheren oder fernes Lachen. Luca spürte, wie sein Magen knurrte. Das große Buffet schien schon lange her zu sein.
Der Boden war in diesem Raum glatt. Der Geruch nach Chlor füllte die Luft. Luca tastete sich mit den Füßen in den Raum hinein und erspürte eine Kante.
„Wir sind im Schwimmbad!“, flüsterte er aufgeregt. Schritt für Schritt ging er zum Rand zurück, um nicht ins Wasser zu fallen.
„Sind wir denn bald mal durch das ganze Hotel gelaufen?“, beschwerte sich Milo flüsternd.
„Die Schlafzimmer fehlen auf jeden Fall noch, und der Keller. Wir haben keine Treppe überquert“, stellte Amy fest.
Es ging durch eine weitere Tür, durch die verlassenen Umkleiden und endlich wieder auf einen Flur. Der Geruch nach warmem Essen füllte die Luft. Luca schloss die Augen, hob die Nase und folgte dem Geruch. Er tastete sich die Wände entlang, bis er eine Tür fand.
Ungeduldig rüttelte er am Knauf, und zu seinem Erstaunen ließ sich die Tür öffnen.
Helles Licht und Lärm empfing sie. Menschen klatschten Beifall. Die 13, die aus der Dunkelheit traten, blinzelten in die ungewöhnliche Helligkeit.
Sie waren im Esssaal, wo auch das Frühstück gewesen war. Alles war normal – normale Menschen aßen an Tischen, die Bedienungen waren normal angezogen und nicht geschminkt. Für die Teilnehmer der Hell-Hopping-Tour waren drei Tische in der Mitte reserviert. Die normalen Gäste zollten ihnen Respekt für ihren Mut. Kellner kamen zu den Tischen, um sie zu bedienen, ein paar junge Frauen vergewisserten sich, dass Niemand verletzt war und dass sie die Tour gerne fortführen würden.
Als Luca seine Freunde musterte, stellte er fest, dass Evelyn bleich vor Angst war, Milo genervt aussah und Liam beschämt seine Taschenlampe überprüfte, die offenbar ihren Geist aufgegeben hatte. Amy lächelte: „War doch ein guter Einstieg.“
„Ja“, hätte Luca gerne gesagt, „Aber auch nicht mehr als ein Einstieg, genauso sinnvoll wie Tutorials für Profispieler.“