Am Straßenrand:
Es war Abend, als sie endlich etwas anderes als Felder sahen.
Doch was sie sahen, ließ sie innehalten.
Schweigend, entsetzt, starrte die Gruppe auf das kurze Stück der Landstraße, das sich vor ihnen erstreckte. Ein weißer Kleintransporter parkte dort, und eine einzige, einsame Straßenlaterne erhellte die rasch aufziehende Nacht.
Es war genau der Ort, an dem sie gestartet waren.
"Wir sind doch immer geradeaus gelaufen!", flüsterte Eve leise.
Das stimmte, erinnerte Liam sich. Sie waren geradeaus die Straße entlang gelaufen, und geradeaus gefahren, nachdem die fünf Jugendlichen sie aufgenommen hatten. Und auch über die Felder waren sie geradeaus gelaufen, wenn auch etwas schräg zur schnurgerade verlaufenden Straße.
"Was wird hier gespielt?", fragte Mira halblaut.
"Das ist unmöglich", murmelte Dimitri, der blass geworden war und einen schnellen Blick mit Samira wechselte.
Amy, die nach ihrem Anfall immer noch zittrig wirkte, stöhnte leise. Doch sie blieb stehen.
Liam ging mit den anderen auf den Transporter zu. Die Kisten im Inneren standen genau so, wie sie sie verlassen hatten. Sie konnten sogar ihre eigenen Fußspuren im Matsch erkennen.
"Das ist doch verrückt!", flüsterte Dimitri.
Liam sah etwas, ein Stückchen die Straße hinunter. Eine helle Gestalt. Er kniff die Augen zusammen, doch da huschte die Erscheinung bereits von der Straße.
Samstag schlug vor, dass sie die nähere Umgebung erkunden sollten. Vielleicht war die Straße nur so hergerichtet worden, dass sie gleich aussah, um sie wieder in den Transporter zu locken. Die anderen stimmten zu und teilten sich in kleine Grüppchen auf, die die Straße entlang nach vorne gingen, in den Wald, wohin die Fußspuren der Fahrer führten und den Wagen untersuchten.
Liam wanderte unbeobachtet die Straße zurück, in die Richtung, aus der der Wagen gekommen war. In seinem Kopf kreisten verschiedene Gedanken umeinander.
Waren sie im Kreis gelaufen? War dies nur eine Straße, die ganz genauso aussah, wie die, die sie verlassen hatten?
Wurden sie wahnsinnig, oder befanden sie sich vielleicht bereits in der Hölle?
Erst da merkte er, dass er sich ein ganzes Stück von den anderen entfernt hatte und ihre fernen Stimmen vom Wind so sehr verzerrt wurden, dass er keine Worte mehr erkennen konnte. Er fragte sich, was er hier tat, doch da sah er wieder etwas Weiß aufblitzen, gerade außerhalb des Kreises, den er als nah bezeichnen würde.
Neugierig ging Liam weiter, auf diesen Menschen zu, der am Rand der Straße durch das Gebüsch huschte und mal näher, mal weiter entfernt auftauchte wie ein neugieriges Tier.
Etwas an der Bewegung dieses Wesen faszinierte ihn. Es schien ein Kleid zu tragen, ein zerrissenes, weißes Hochzeitskleid, dessen einzelne Streifen in einer schwachen Brise flatterten. Wie im Traum folgte Liam dem Wesen ein Stück in den Wald hinein.
Irgendwann fand er sich in einem plötzlichen, klaren Moment mitten im dichtesten Wald wieder, umgeben von großen, schweigenden Bäumen und Dunkelheit. Er hörte eine Stimme singen, schrill und misstönend. Das Herz schlug ihm in der Brust wie ein gefangener Vogel, der endlich fliehen wollte. Plötzlich musste Liam ganz dringend auf Toilette, doch hätte er nie gewagt, diesem Drang hier und jetzt im Wald nachzugehen.
Ein sanftes Rascheln hinter ihm. Er fuhr herum und erblickte eine Frau.
Sie trug ein weißes Kleid und war dünn wie eine Vogelscheuche. Ihre Haut war dunkel, fast schwarz, die Finger knochig und schlank wie knorrige Äste im Winter.
Sie kam auf ihn zu und ein eisiger Hauch umfing Liam.
Er konnte keinen Muskel mehr rühren.