In geheimer Mission:
Schüchtern lächelte Liam die geschminkte Frau an und wurde prompt rot: „Verzeihen Sie, Miss, aber ich – ähm – müsste mal … an einen Ort ...“
Die Frau sah ihn zuerst verwirrt an, dann erhellte Verständnis ihr Gesicht: „Aber natürlich, komm mit!“
Sie ging voraus und Liam stolperte ihr hinterher. Die Frau öffnete die Tür, die für Milo und Eve verschlossen gewesen war, und geleitete Milo hindurch.
Er atmete tief durch, als er in den düsteren Gang dahinter eintauchte. Auf hohen Stöckelschuhen lief seine Begleitung voraus und winkte ihm, dicht bei ihr zu bleiben. Liam stakste unsicher hinterher, er hatte bereits viel zu lange eingehalten. Trotzdem bemühte er sich, aus den Augenwinkeln nach Informationen zu haschen, irgendwas, was er seinen Freunden nachher erzählen konnte.
Es war dunkel, alle Türen geschlossen. Liam musste sich beeilen, um nicht an Anschluss an die junge Frau zu verlieren und damit eventuell ihr Misstrauen zu erwecken.
Vor einer unscheinbaren Holztür blieb die Frau stehen. Erst auf den zweiten Blick konnte Liam im Dämmerlicht die kleine Figur eines Mannes auf der Tür sehen.
„Ich warte hier“, verkündete seine Führerin lächelnd und machte ihm mit ein paar schnellen Schritten Platz.
Liam öffnete die Tür und huschte ins Innere der Toiletten. Helles Licht blendete ihn. Offenbar erstreckte sich die Halloween-Beleuchtung des Hotels nicht auf diesen Raum. Das Badezimmer war sauber und hell, die Spülsteine wirkten allesamt geschrubbt, und grelle Lampen erleuchteten jeden noch so kleinen Winkel. Liam suchte sich einen Platz vor dem Urinal und konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken, als er endlich der Natur freien Lauf ließ.
Die Toiletten waren verlassen, jedenfalls war es ihm so vorgekommen, doch während des lauten Plätschern seines Geschäftes hörte er plötzlich andere Geräusche.
Ein Kratzen. Als würden Krallen über Metall schleifen. Liam versuchte, den Fluss aufzuhalten, doch das war nicht so einfach. Als er endlich die Kontrolle über seinen Körper zurück erlangte, war das Geräusch verstummt. Nichts war zu hören, nur das leise Summen der Lampe, und das Rauschen der Heizungen, die hinter einer Holzabdeckung versteckt lagen. Immer noch mit herabgelassener Hose sah Liam sich um. Die Kabinen konnte er nicht einsehen, jedoch erinnerte er sich daran, dass alle Türen offen gewesen waren, als er den Raum betreten hatte. Weder die Waschbecken, noch die Urinale boten Platz für ein Versteck. An der einen Wand hing ein Automat mit Kondomen, doch es gab keinen versteckten Winkel.
Er musste sich getäuscht haben. Liam schüttelte innerlich den Kopf über sich selbst und fuhr damit fort, einen Strahl Urin ins Becken plätschern zu lassen.
Bis das Kratzen erneut erklang.
Diesmal war Liam fertig, schüttelte eiligst die letzten Tropfen fort und zog seine Hose wieder an. Seine Finger zitterten. Er lauschte und konnte das Kratzen wieder hören. Es war leise und hatte einen seltsamen Nachhall wie ein Echo. Liam schluckte und schob sich Stück für Stück rückwärts zur Tür.
Dann hielt er inne. Wollte er ein Angsthase sein – oder mutig und stark wie die Helden aus seinen Geschichten? Er packte seine Taschenlampe, die er immer noch mit sich trug, und schlich auf den Gang zu.
Er musste zwischen zwei Reihen Kabinen hindurch. Mit angehaltenem Atem stieß er jede Tür ganz auf, um zu sehen, ob jemand sich dahinter verbarg. Bei jedem Stoß rechnete er mit einem Angriff, doch er erreichte das kleine Fenster an der hinteren Wand ohne Schaden. Das Geräusch war leise. Als Liam eine Hand an die Wand legte, hörte das Kratzen schlagartig auf.
Die Angst durchfuhr ihn wie ein Stromschlag. Die Fliesen fühlten sich unter seinen Händen schleimig und nass an. Sie schienen zu pulsieren, als wären sie lebendig, als würde ein ängstliches Herz unter seiner Hand schlagen.
Liam zuckte zurück. Die Stille hielt an, schien ihn zu belauern, zu beobachten. Schweiß rann über seine Stirn, als Liam sich zur Tür flüchtete und auf den Gang stolperte, der erschrockenen Bediensteten fast vor die Füße.
„Zurück!“, brachte Liam keuchend hervor und begann, den Gang hinab zu sprinten.
„Was ist denn los?“, rief ihm die Frau hinterher und folgte auf hohen Absätzen ein wenig langsamer.
„Alles gut!“, rief Liam und stürzte durch die Tür zurück in den Raum mit dem unheimlichen Buffet.
Amy, Luca, Eve und Milo erwarteten Liam mit gespannten Mienen: „Und?“
Liam schüttelte den Kopf und stützte sich keuchend auf den Knien ab. Er rang nach Luft.
„Du hast nichts gefunden?“, fragte Evelyn ein wenig enttäuscht.
„Alles klar?“, fragte Amy.
Liam nickte und brachte die Worte „Kratzen … im Bad!“ zwischen seinen Atemzügen hervor.
Amy kramte in ihrer Tasche und reichte Liam elegant einen Asthma-Inhalator.
„Danke!“, keuchte Liam und nahm gleich zwei Schübe aus dem kleinen Inhalator.
Wenig später, als er wieder Luft bekam, erzählte er seinen Freunden detailliert, was er gehört hatte.
„Vielleicht waren es Ratten?“, überlegte Amy.
Milo zuckte mit den Schultern: „Oder die Klimaanlage ist kaputt.“
„Ich hab keine Klimaanlage gesehen“, erklärte Liam, dem seine Panikattacke inzwischen peinlich war: „Aber Ratten könnten es gewesen sein. Vielleicht in der Lüftung oder so.“
Eve verzog das Gesicht: „Ratten! Ist ja widerlich!“
„Keine Zombies?“, fragte Luca enttäuscht, und Liam verneinte.
Milo grinste breit: „Da hat man dich wohl mit heruntergelassener Hose erwischt!“, neckte er Liam.
„Das war nicht witzig!“, jammerte Liam: „Das war gar nicht witzig!“
Und fast, als wäre das ein geheimes Stichwort gewesen, öffneten sich die beiden Türen am Ende des Raumes wie große Pfoten zu einer unheimlichen Hölle. Tiefe Schwärze lachte den Gästen entgegen.
Dimitri und Samira standen der Tür am nächsten. Doch die beiden zögerten, hindurch zu gehen. Samstag und seine fünf Schatten schlichen sich auf die eine, Amy, Milo, Eve, Luca und Liam auf die andere Seite.
Alle 13 starrten in die Dunkelheit. Über der Tür leuchtete ein roter Schriftzug auf, der von irgendeinem versteckten Beamer geworfen werden musste:
„Lasst, die ihr mich durchschreitet, alle Hoffnung fahren.“