Das Ende des Horrors:
Eve sank während der Fahrt immer tiefer in die weichen Sitze. Ihre Hände zitterten, doch das Innere des Wagens beruhigte ihre angespannten Nerven langsam. Sie waren dem Park entkommen.
Sie waren entkommen!
Die Gewissheit drang langsam zu ihr vor, begleitet von dem angenehmen Geruch des Ledern, dem sanften Schnurren des Motors, von der wohligen Wärme der Anderen.
Sie weinte. Eve war nicht die einzige, deren Gefühle über schwappten. Mira und Luca lagen sich schluchzend in den Armen, und auch über Amys Wangen rollten Tränen, obwohl sie stumm blieb. Samira und Samstag schienen beide in sich gekehrt, standen wohl noch unter Schock. Die Frau hielt immer noch Dimitris Aktentasche auf dem Schoß wie ein kleines Kind.
Nur langsam drang zu ihnen vor, dass sie endlich entkommen waren.
Eve dachte an Milo. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Milo. Lou. Sie hätte ihm öfter sagen müssen, wie viel er ihr bedeutete. Dass er sie aus einem sehr tiefen, dunklen Loch gezogen hatte. Seine Zuneigung hatte ihr so viel Kraft gegeben, sogar jetzt noch, obwohl die Erinnerung schmerzte.
Ohne Milo hätte Eve einfach aufgegeben, das wusste sie. Und er war gestorben, ohne zu wissen, was er für sie war: Mehr als einfach nur ihr Freund. Er war ihr Rückgrat gewesen, ihre Stütze.
Und Liam. Er war für sie wie ein kleiner, nerviger Cousin gewesen. Sie schämte sich, dass sie nicht mehr Zeit mit ihm verbracht hatte. Liam war ihr Clown gewesen, er hatte sie immer zum Lachen gebracht. Jetzt fehlte er ihr, zuvor hatte sie kaum bemerkt, dass er da gewesen war. Aber auch Liam war wertvoll für ihre kleine Clique gewesen. Eve lächelte, als sie an einen seiner Witze dachte und brach im nächsten Moment in noch heftigere Tränen aus.
Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie sah auf und begegnete Amys Blick.
"Eve ..."
"Lou", schluchzte sie: "Und - und Liam! Ich -"
"Shh", machte Amy und nahm sie in den Arm. An ihre Freundin geklammert vergrub Eve das Gesicht an ihrer Schulter. Die Limousine glitt vorwärts. Sie weinte, bis in ihrem Körper keine Kraft mehr für Tränen blieb. Das Salz trocknete auf ihren Wangen. Eve merkte, wie sie endlich Frieden fand, obwohl sie wusste, dass es nur für den Moment sein würde. Ihre Augen fielen zu. In Amys Arm schlief sie ein. Sie hatte den Kopf auf Amys Schulter gelegt, und Amy das Gesicht auf ihren Haaren gebettet. Für den Augenblick kam Eve endlich zur Ruhe, obwohl sie wusste, dass die Ereignisse sie ewig verfolgen würden.
Sie wurde von Amy geweckt, die sie sanft wachrüttelte.
"Wir sind gleich da", sagte die Rothaarige.
"Wie lange habe ich geschlafen?", fragte Eve. Für einen Moment kamen ihr die Ereignisse wie ein Traum vor. Vielleicht waren sie ja auch gerade erst vom Hotel Fear losgefahren. Sie wünschte es sich mit solcher Stärke, dass sie sofort wusste, dass es kein Traum gewesen war.
"Einige Stunden. Mittag ist durch", gab Amy an. Sie sah genauso verschlafen aus, wie Eve sich fühlte.
Die Haare aller sechs Gäste waren durcheinander, Lucas Brille war verrutscht. Die Blutspuren auf ihren Gesichtern waren getrocknet. Eve schauderte. Sie wollte unbedingt duschen. Eine lange, heiße Dusche, um das Blut abzuwaschen und um in Ruhe weinen zu können. Das kam ihr wie ein Himmelsreich vor.
Die Scheiben der Limousine waren abgedunkelt, die Welt draußen nicht klar zu erkennen. Eve kam sich vor, als wäre sie noch im Traum gefangen, doch das lag an der Erschöpfung, die sich jetzt deutlich machte. Sie streckte sich müde. Ihre Gelenke und Knochen knackten.
Der Motor erstarb in einem Wispern. Die sechs regten sich, dann wurde die Tür an der Seite geöffnet. Davor stand ihr Fahrer, ein gutaussehender Mann, vielleicht Mitte Fünfzig, mit dunklen Haaren und einem Anzug. Eve nahm ihn zum ersten Mal bewusst wahr. Er wirkte sympathisch, dunklere Haut, erste silbrige Strähnen im Haar und ausgeprägte Geheimratsecken. Seine Kleidung war ordentlich, sein Lächeln warm. Er streckte eine Hand aus und half ihnen aus der Limousine. Samira überließ ihm sogar die Aktentasche, als er anbot, sie zu tragen.
Die erschöpften Gäste folgten ihm zum Hotel Waldesruh.
Das Hotel war ein kleines, altertümliches Gebäude, ein Fachwerkbau aus dunklem Haus und beigem Füllmaterial, früher vielleicht einmal weiß. Die Tür war aus Ebenholz, mit einem kleinen Fenster darin, das sogar Vorhänge besaß. Der Flur und das Esszimmer, in das sie geführt wurden, verströmte einen gewissen, bäuerlichen Charme. Es war eng. Es roch intensiv nach Holz. Die sechs Gäste drängten sich auf zwei schmalen Holzbänken um einen kleinen Tisch mit Astlöchern darin, durch die man den Boden sehen konnte. Sie saßen in einer Ecke des engen Raumes. Nur Samstag und Amy konnten direkt aufstehen, für alle Anderen musste erst der Rest der Sitzenden durchrutschen. Übereinander zu klettern war unmöglich. Zwischen Tisch und Sitz war einfach zu wenig Platz.
Eve genoss die Enge. Es gab ihr Sicherheit, zwischen Amy und Mira zu sitzen. Als wäre sie vor allem geschützt.
Ihr Fahrer stellte ihnen sechs Teller auf den Tisch und quetschte einen Topf mit dampfender Suppe dazwischen, obwohl es dafür eigentlich keinen Platz gab. Die sechs aßen die Suppe gierig, ebenso das Brot, dass ihnen dazu gegeben wurde. Der Topf war riesig, doch sie hatten ihn schnell geleert und bekamen noch Brötchen und Obst.
Nachdem ihr Magen voll war, fühlte sich Eve wirklich geborgen. Der Fahrer stellte auch eine Dusche in Aussicht.
Nachdem der Hunger gestillt war, kehrte Eves Neugier zurück. Bisher hatten sie nur den Fahrer gesehen. Warum blieb er hier?
"Wo sind die anderen? Köche, Hausmädchen?", fragte auch Samstag.
Der Mann neigte leicht den Kopf: "Ich bin alleine. Es ist ein kleiner Gasthof, den man auch alleine verwalten kann."
"Also sind Sie Fahrer, Koch und alles weitere in Einem?", fragte Samstag weiter.
Der Mann, der auf einem Hocker vor ihrem Tisch gesessen hatte, breitbeinig und die Lehne vor sich, auf der er Arme und Kopf aufgestützt hatte, stand jetzt auf und deutete mit einem ironischen Lächeln eine Verbeugung an: "Ich sollte mich vorstellen: Brandon Hartmann, Vertreter der Tourleitung, Mädchen für alles."
Er grinste entschuldigend: "Und natürlich dafür verantwortlich, euch mit der Verarbeitung der Tour behilflich zu sein."
Die sechs starrten ihn an. Sie waren den Drahtziehern endlich nah gekommen! Eve hatte schon nicht mehr daran geglaubt. Beinahe hätte sie laut gelacht, als sie an das Hotel Blair dachte. Wenn sie hätte abbrechen wollen, dann hier.
Das Misstrauen kehrte zurück. "Und sie lassen uns gehen?", fragte Amy.
"Natürlich", lächelte Brandon.
"Aber alle sagten -", begann Eve stotternd.
"Was während der Show gesagt wurde, gehört zur Show", sagte Brandon: "Es gibt natürlich ein Entkommen."
"Und unsere Freude? War das auch nur Show?", fuhr Amy ihn an.
Brandon nickte zu ihrer Überraschung: "Wenn ihr mir folgen wollt - es wird sich alles klären."