Der Tag im Rasthaus:
"Ich gehe mal kurz für kleine Jungs", sagte Dimitri und stand schwerfällig auf. Die elf anderen nahmen seine Worte, wenn überhaupt, dann nur mit müdem Nicken zur Kenntnis.
Sie hatten sich auf den zwei muffigen Sofas im Wohnzimmer verteilt und starrten auf den dritten Splatter-Horrorfilm, der über den winzigen Bildschirm eines alten Fernsehers flackerte. Der Fernseher, obwohl er aus der Steinzeit zu stammen schien, wirkte immer noch zu modern für die Einrichtung. Sogar Geweihe hingen an der Tür wie in einer alten Jagdhütte. Eve fand das ganze Ambiente viel zu authentisch und hätte sich über die offensichtliche Falschheit aus dem Hotel Fear sehr gefreut.
Auf dem Bildschirm schrien die typischen Klischee-Jugendlichen hysterisch aufeinander ein, nachdem sie das erste Opfer des Mörders gefunden hatten. Eve verfolgte den Film nicht wirklich. Er war so schlecht gemacht, dass nicht einmal sie sich gruseln könnte. Außerdem hatte sie zu viele Gedanken, die ihren Kopf füllten. Der Film lief weiter, eine Wasserleiche holte sich ein Opfer nach dem anderen, und die Gäste knabberten Chips und Brote, tranken Cola oder Bier und rückten manchmal hin und her, träge wie eine Gruppe Walrösser, denen sie auffällig ähnelten, wie sie sich auf dem schmalen Platz verteilten, manchmal sogar über den anderen, denn es gab bei Weitem nicht genug Platz für sie.
Die Stimmen aus dem Fernseher waren schrill und zu leise, um viel zu verstehen. Eigentlich trieben die Zuschauenden nur auf einer Wolke aus Erschöpfung durch den Tag. Eve gab sich selber vor, nach einer Lösung für ihre vielen Probleme zu suchen. Aber eigentlich fühlte sie sich leer und ohne jeden Antrieb. Sogar Angst und Sorge waren wie aufgebraucht. Es fühlte sich alles unwirklich wie ein Traum an.
"Wo bleibt eigentlich Dimitri?", fragte Samira.
Müde hob Eve den Blick. Jetzt wurden die elf Gäste doch unruhig.
Eve dachte zurück. Wie lange war Dimitri nun fort? Bestimmt eine halbe Stunde, wurde ihr siedend heiß klar. So lange konnte er nicht gebraucht haben.
Samira quälte sich von ihrem platz zwischen Tee-jo und Milo hoch. Samstag erhob sich ebenfalls. Schon allein das Bedürfnis, ihre Beine zu strecken und wieder Klarheit in ihre Gedanken zu bringen, brachte Eve dazu, ihnen zu folgen. Die anderen tröpfelten hinterher, denn offenbar war Niemand in dem engen Raum wirklich glücklich gewesen. Die fünf Frauen um Samstag wirkten wachsam wie Katzen.
Samira klopfte an die Tür der Toilette. Als keine Antwort kam, drückte sie die Klinke herunter.
Die Tür schwang auf. Im Inneren war es leer, nur Dimitris Aktentasche stand auf dem Boden. Samira kniete sich hin, um die Tasche sorgsam aufzuheben, als behandele sie ein Baby.
"Er würde sich niemals davon trennen", meinte sie nachdenklich und sah sich um.
"Dimitri?", rief Samstag halblaut.
Eve spürte, wie Angst sie ergriff. Da stimmte etwas nicht. Unbewusst tastete sie nach Milos Hand, doch er drückte nicht zurück. Er war selbst starr vor Angst.
Sie liefen durch das ganze Haus, was nicht sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Von Dimitri war weder auf dem Dachboden, noch in der Küche oder dem Schlafzimmer eine Spur zu finden. Auch ihr Fahrer war nicht da, doch Keiner wusste, ob der Mann nicht einfach wieder weg gefahren war.
Ihre Suche führte sie schließlich nach draußen auf den Parkplatz.
"Kann er in den Wald gegangen sein?", fragte Samstag.
Samira schüttelte energisch den Kopf: "Nicht ohne seine Tasche."
"Dann muss es noch einen Teil des Hauses geben", meinte Samstag.
Sie fanden die Kellerklappe schnell, ein etwas emporgehobener Holzkasten an einer Seite des Hauses. Die Doppelklappe war mit einer Kette und Vorhängeschloss gesichert, doch Tee-jo brauchte nicht lange, um das Schloss zu knacken.
Samstag zog die Türen auf.
Eve sah eine schiefe Treppe, die ins Dunkel führte.
"Schon wieder ein Keller", murmelte Milo neben ihr unglücklich.