Im Zimmer war es dunkel. Der bleiche Vollmond strahlte zwar zum Fenster herein, doch sein Licht erzeugte nur Schatten an den Wänden. Alexandra schlief unruhig. Etwas stimmte nicht. Nachdem ihre Mutter sie ins Bett gebracht hatte, war niemand mehr hereingekommen. Ihr äußerst sensibles Gehör hätte sie geweckt, wenn die Tür geknarrt oder die Dielen geächzt hätten. Sie war allein Zuhause. Ihre Eltern arbeiteten oft bis spät in die Nacht, und waren auch jetzt nicht hier. Und dennoch war das Nachtlicht, das bis vor Kurzem noch gebrannt hatte, nun ausgeschaltet und am Fußende ihres Bettes saß ein Fremder auf der Matratze. Ein finsterer Schemen, der sich kaum bewegte und der definitiv nicht dort gesessen hatte, als sie schlafen gegangen war.
»Guten Abend«, sagte der Fremde mit sanfter, tiefer Stimme. Er drehte sich nicht um, und seiner Gestik nach zu urteilen, galt seine Aufmerksamkeit etwas, das in einer seiner großen Hände lag.
Alex blinzelte, aber es war zu dunkel, um Genaueres erkennen zu können. Langsam setzte sie sich auf. Ihr kleines Herz raste und sie klammerte sich mit beiden Händen an der Decke fest. »Wer bist du?«, fragte sie den Fremden und dieser drehte sich langsam halb zu ihr herum.
Sie konnte jetzt sehen, dass seine linke Hand um etwas zur Faust geschlossen war, das darin Licht erzeugte. Ein sanfter, kühler smaragdgrüner Schimmer, der sich einen Weg zwischen seinen Fingern hindurch bahnte. Leicht nach vorne geneigt saß der Schatten da und erweckte den Anschein, dass etwas nicht stimmte. Er wirkte bedrückt. Sehr bekümmert. Sein Herz klopfte so laut, dass seine Hand mit jedem Pulsschlag bebte.
»Nur ein Freund«, erwiderte der Fremde. Seine Stimme war dünner geworden und seine Worte klangen nun mehr wie ein Hauchen, als wie echtes Sprechen. »Alexandra«, fuhr er fort. »Komm etwas näher, ich will dir etwas zeigen.«
»Wie nah?«, fragte sie in kindlicher Neugier, kroch aus der Decke und näherte sich dem Mann.
Er lächelte ihr zu. Sie sah im fahlen Mondschein, wie seine Mundwinkel zuckten. Sein schulterlanges Haar war ihm teilweise vors Gesicht gefallen, sodass sie seine Augen nicht sehen konnte. Aber sie fühlte deutlich, dass auch diese lächelten. Aber es war ein anderes, weniger freudiges Lächeln als die, die sie kannte.
»Das reicht«, sagte er zu ihr. »Öffne die Hand.« Unsicher gehorchte sie und schob beide Hände ausgestreckt aneinander, streckte sie dem Dunklen entgegen und wartete auf seinen nächsten Schritt. Er hob die Hand, in der sich das Licht befand, über ihre, ließ es hineinfallen und schloss ihre Finger um den waldgrünen Schein. »Du musst das hier für mich verwahren. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber ich werde irgendwann wiederkommen, und es zurückfordern. Wie alt bist du?«
»Sechs«, erwiderte das Mädchen. Ihre Aufmerksamkeit galt nun dem kleinen Licht in ihren Fingern. »Darf ich es ansehen?«
Als der Fremde nickte, hob das Mädchen den Zeigefinger an und spähte ins Innere ihrer, zum Käfig geformten Hände. Darin lag etwas, das sich schwer anfühlte. Es war kein Licht, sondern etwas anderes. Etwas, das man berühren und ertasten konnte. Sie zögerte, warf dem Schatten einen weiteren Blick zu und, als dieser schweigend sitzenblieb, nahm sie den Mittelfinger zur Seite. Ihr Blick fiel auf ein Stück Silber, das mit einem grünen Stein versehen war. »Was ist das?«
»Etwas, das für mich sehr wichtig ist. Du darfst es nicht verlieren und niemandem davon erzählen, bis der Tag kommt, an dem ich es zurückhaben muss. Hast du verstanden? Es ist sehr wichtig für mich, dass du nicht vergisst, auf mich zu warten, ganz gleich, wie lange es dauern wird.«
Alex nickte. »Es bleibt unser Geheimnis.« Sie schloss ihre rechte Hand um das Licht, krabbelte zum Kopfende des Bettes und schob die oberste Schublade ihres Nachttischs auf. Mit einem letzten Blick auf ihre schimmernde Hand, ließ sie das Licht hineingleiten, schob die Schublade zu drehte den Schlüssel um, der das Schloss versiegelte. Mit einem Grinsen schob sie den Schlüssel unter ihr Kopfkissen und setzte sich davor. »Ich bin sehr vorsichtig.«
»Wunderbar machst du das«, sagte der Fremde, stand auf und drehte sich zu ihr herum. Sie konnte ihn im Dunkeln nicht genauer erkennen, sah jedoch, dass er sich anmutig vor ihr verneigte, wie ein Ritter. »Alexandra«, fuhr er fort. »Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen. Ich muss jetzt fort, aber ich verspreche dir, dass ich wiederkommen und nächstes Mal mehr Zeit mitbringen werde, um dich besser kennenzulernen.«
Und das tat er. In den nächsten drei aufeinander folgenden Nächten kehrte der Fremde gegen Mitternacht in ihr Zimmer zurück. Doch er sprach von Nacht zu Nacht weniger und Alex sah, dass es ihm schlechter ging, jedes Mal, wenn er wiederkehrte. Bis sie in der vierten Nacht aufrecht im Bett saß und wusste, dass er nicht mehr kommen würde.